© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/20 / 10. Juli 2020

Den Film wie eine Oper prägen
Viel mehr als fünf Mundharmonikatöne: Vergangenen Montag starb der italienische Komponist Ennio Morricone im Alter von 91 Jahren
Michael Dienstbier

Drei Männer warten auf einen Zug – kann es etwas Langweiligeres geben? Mehr als zehn Minuten ohne Dialog, ohne Musik, ohne Kommentierung. Wir wissen nicht, auf wen oder was diese drei zwielichtigen, schweigsamen Gestalten an einer Station mitten im US-amerikanischen Nirgendwo gegen Ende des 19. Jahrhunderts warten, nachdem sie allein durch ihre bedrohliche Präsenz den Bahnwärter vertrieben haben. Es folgen Alltagsgeräusche: das Knarren eines Windrades, das Rattern eines Telegrafen, das Aufklatschen von Wassertropfen, das Summen einer Fliege, sonst nichts. Schließlich nähert sich dröhnend der Zug, hält, nichts passiert, der Zug setzt sich wieder in Bewegung, die Männer sind im Begriff, unverrichteter Dinge zu gehen, als plötzlich die fünf berühmtesten Mundharmonika-Töne der Filmgeschichte erklingen und sich das Geschehen in einem Gewaltexzeß entlädt. Eine reine Schilderung der Ereignisse kann nicht vermitteln, welch enorme Spannung die Anfangsszene des 1968 erschienenen Western-Klassikers „Spiel mir das Lied vom Tod“ erzeugt. Die bis ins Unerträgliche gesteigerte Erwartungshaltung entsteht durch das geniale Zusammenspiel der Kameraeinstellungen des Regisseurs Sergio Leone und der Tonkomposition Ennio Morricones, der am 6. Juli dieses Jahres 91jährig in seiner Geburtsstadt Rom gestorben ist.

Ungeheure Schaffenskraft über die Filmmusik hinaus

Insgesamt sechs Filme produzierte der studierte Chormusiker und Trompeter Morricone zusammen mit seinem ehemaligen Klassenkameraden Leone. Als am wirkmächtigsten hat sich die „Amerika-Trilogie“ bestehend aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968), „Todesmelodie“ (1971) und „Es war einmal in Amerika“ (1984) erwiesen, deren Einzelteile nicht inhaltlich, sondern thematisch – Rache, Verrat, Vergebung – und vor allem durch die Musiksprache Morricones miteinander verbunden sind. Zum ersten Mal in der Filmgeschichte sind in „Spiel mir das Lied vom Tod“ vier Charakteren leitmotivisch wiederkehrende Erkennungsmelodien zugeordnet. Neben dem namenlos bleibenden von Charles Bronson gespielten Mundharmonika-Mann sind dies der eiskalte Auftragskiller Frank (Henry Fonda), der sympathische Bandit Cheyenne (Jason Robards) und vor allem die verwitwete Prostituierte Jill, dargestellt von Claudia Cardinale in einer ihrer besten Rollen. Immer wieder haben Kritiker dem Film deshalb völlig zu Recht Wesensmerkmale einer Oper attestiert. Dafür spricht auch, daß Morricone die gesamte Filmmusik bereits vor Beginn der Dreharbeiten einspielte und Leone die entsprechenden Szenen dem Rhythmus der Musik anpaßte, was maßgeblich zum epischen Charakter dieses Meisterwerks beigetragen hat. Erst die Musik, dann die Dreharbeiten – in dieser Reihenfolge entstand auch „Es war einmal in Amerika“, wobei hier der epische Charakter im Zusammenspiel von Musik- und Filmsprache noch besser zur Geltung kommt, da die Handlung einen Zeitraum von mehr als 45 Jahren umfaßt.

Neben der Komposition diverser Kammermusikstücke, Kantaten und Messen wirkte Morricone in über 500 Filmen mit und arbeitete dabei unter anderem mit Roman Polanski, Brian De Palma und Pier Paolo Pasolini zusammen, zu dessen Skandalfilm „Die 120 Tage von Sodom“ er die Musik beitrug. Fünfmal war er ohne Erfolg für die bedeutendste Auszeichnung der Filmbranche nominiert, bevor er 2007 den Ehrenoscar für sein Lebenswerk verliehen bekam. Die Zusammenarbeit mit Quentin Tarantino gegen Ende seines Lebens reicht noch am ehesten an die Bedeutung des gemeinsamen Schaffens mit Sergio Leone, der bereits 1989 verstarb, heran. Waren es für „Inglourious Basterds“ (2009) und „Django Unchained“ (2012) zunächst nur einzelne Lieder, komponierte Morricone für „The Hateful Eight“ die gesamte Filmmusik und erhielt 2016 endlich den Oscar in der Kategorie „Beste Filmmusik“ für einen Einzelfilm. Nicht zuletzt die legendäre Anfangssequenz von „Inglourious Basterds“ trägt eindeutig die tonkompositorische Handschrift Morricones und steht in ihrer Intensität nur noch mit dem Beginn von „Spiel mir das Lied vom Tod“ auf einer Stufe. Der größte Filmkomponist aller Zeiten hinterläßt eine Lücke, die nicht zu füllen sein wird.