© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/20 / 10. Juli 2020

Auf die Corona-Krise könnten Verteilungskämpfe folgen
Wer kann gewinnen?
Johannes Eisleben

Der Covid-Lockdown löst derzeit eine Wirtschaftskrise aus, die zu einem massiven globalen, synchronen Rückgang der Güter- und Dienstleistungsproduktion führen wird, wie wir ihn seit 1816 – dem Jahr ohne Sommer – nicht mehr erlebt haben. 

Denn keine Krise seitdem hat, wie wir ihn heute erleben, zu einem global synchronisierten Produktionsaufall geführt. Für 2020 ist in Deutschland mit einem Einbruch des Bruttosozialprodukts um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu rechnen, in anderen Ländern der OECD dürfte es ähnlich aussehen.

Covid-19 ist nur der Auslöser, nicht aber die Ursache der Krise, die viel mehr in der massiven globalen Verschuldung von etwa 250 Billionen (250.000 Milliarden, Stand: Ende 2019) US-Dollar liegt. Diese Schulden werden 2020 um mindestens weitere 20 Billionen anwachsen, wobei ein Großteil durch monetäre Staatsfinanzierung erzeugt werden dürfte: Es werden staatliche Schuldscheine digital oder physisch gedruckt oder private Schuldscheine und Firmenanteile mit frischgedrucktem Geld aufgekauft.

Der Mechanismus der kommenden Reduktion der Wirtschaftsleistung ist ein kombinierter Angebots- und Nachfrageschock. Die Unternehmen können nicht mehr so viel produzieren wie bisher, weil ihnen die Zulieferung oder die liquiden Mittel fehlen, um bei der Produktion in Vorleistung zu gehen. Die Kunden kaufen weniger, weil sie aus Sorge um die Zukunft ihre Mittel zusammenhalten. 

Es kommt durch den hohen Anteil bereits vor der Krise massiv verschuldeter Zombieunternehmen rasch zu Unternehmenspleiten, die beide Tendenzen verstärken. Daraus resultiert eine sich verstärkende Negativspirale.

Wenn die Wirtschaftsleistung so stark schrumpft, ist es egal, wieviel Schuldscheine und Papiergeld ausgegeben werden: Geld und Anleihen kann man nicht konsumieren, und die Menge verteilbarer und nutzbarer Güter sinkt. Dadurch entstehen ganz von selbst unter denjenigen, die schon heute wenig haben, Verteilungskämpfe.

Vorboten solcher Kämpfe haben wir in Deutschland zuletzt mit den Bauernprotesten gegen die Agrarpolitik erlebt. Die Bauern wehren sich dagegen, als Folge dieser Politik Einkommen und im schlimmsten Fall ihr Eigentum zu verlieren. In Frankreich sind die Gelbwesten-Proteste bereits Ausdruck eines steigenden Verteilungsdrucks. Denn wer in Frankreich das Medianeinkommen oder weniger verdient, der erlebt schon seit vielen Jahren eine Einkommensstagnation oder gar eine -entwertung, die mittlerweile so weit geht, daß eine angemessene Beteiligung an der Alltagskultur auch für hart arbeitende Familieneltern der Unterschicht und unteren Mittelschicht sehr schwer oder gar unmöglich wird.

Da der französische Staat gleichzeitig immer leistungsschwächer wird und die Einhaltung tradierter sozialer Normen des Rechtsstaats durch den hohen Anteil an Migranten stark nachläßt, erleben wir in Frankreich bereits offene Verteilungskämpfe. Zuletzt in Dijon und chronisch in Marseille kämpfen parasitär agierende Migranten um ihren Anteil an der Beute aus dem Verstoß gegen Rechtsnormen der französischen Gesellschaft.

In Deutschland werden mit der Reduktion der Verteilungsmasse ähnliche Kämpfe wie in Frankreich beginnen. Wie werden dabei die Fronten zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen verlaufen, wie werden sie sich organisieren? 

In Deutschland werden mit der Reduktion der Verteilungsmasse ähnliche Kämpfe beginnen. Wie werden dabei die Fronten zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen verlaufen, wie werden sie sich organisieren? Beginnen wir mit der Bestandsaufnahme der klassischen und der neuen Verlierer.

Die klassischen Verlierer sind autochthone und zugewanderte „Ausgeschlossene“ (Heinz Bude). Menschen, die am Wertschöpfungsprozeß nicht teilnehmen können oder wollen und von der Sozialhilfe, dem bedingungslosen Grundeinkommen, das wir längst eingeführt haben, leben.

Diese Gruppe ist in den letzten zehn Jahren stetig gewachsen und hat sich seit 2015 rasch vergrößert, weil viele Migranten eingereist sind, deren Fähigkeiten nicht ausreichen, um in Deutschland erwerbstätig zu sein. Zu ihnen gehören auch verarmte Rentner sowie Obdachlose. 

Die Mitglieder dieser Gruppe erwarten und erhalten vom Staat zwar Versorgungsgelder, doch sind die meisten von ihnen nicht an der politischen Willensbildung beteiligt. Manche bessern ihr Einkommen durch Schwarzarbeit oder Kriminalität auf, andere durchwühlen Mülltonnen nach Pfanddosen, nutzen die private Armenhilfe (wie die Tafeln) oder betteln um Almosen.

Wie organisationsfähig ist diese heterogene Gruppe der Ärmsten und Schwächsten? Ein Teil dieser Menschen ist vereinsamt und hat wenig soziale Beziehungen, sie können sich und lassen sich nicht organisieren. 

Autochthone Angehörige der Unterschicht sind oft in ihrem Sozialstatus verfestigt und leben in losen Gemeinschaften, doch sind sie nicht tief in die Vergesellschaftungsstrukturen eingebunden, sondern empfinden Behörden und Ämter als Gegner.

Am besten organisationsfähig unter den klassischen Verlierern sind Migranten, die entweder als Clans und Familien einwandern oder sich mit Landsleuten eine lokale Gemeinschaft aufbauen. Diese Gemeinschaften sind oftmals durch Verwandtschaftsbeziehungen organisiert und durch einen hohen Wert- und Kulturethos gekennzeichnet, wobei die kulturellen Inhalte ganz andere sind als die der Autochthonen.

Interessanterweise sind die meisten der Migrantengruppen jedoch nicht als Gesellschaften organisierbar, das bedeutet, sie organisieren sich aufgrund persönlicher Verwandtschaft und Bekanntschaft, aber nicht in anonymen Gruppen aufgrund kulturell-normativer Strukturen. Die Tschetschenen, die in Dijon einen Straßenkrieg gegen nord­afrikanische Migranten geführt haben, sind eine seltene Ausnahme, die sich aus der besonderen Geschichte dieses Volkes ergibt. In diesem Fall hat sich eine Volksgruppe organisiert, innerhalb derer es nicht notwendigerweise persönliche Verbindungen, aber gemeinsame Werte, Normen und abstrakte Sozialbeziehungen gibt.

Doch beim überwiegenden Teil der nichtintegrierten, zu unserer Unterschicht gehörenden Migranten ist die Lage ganz anders. Denn wir haben es bei dieser hochgradig heterogenen Population mit keinen Parallelgesellschaften zu tun, wie oft fälschlich gesagt wird, sondern mit vielen ganz unterschiedlichen Parallelgemeinschaften, die sich untereinander nicht organisieren und vergesellschaften, weil es am Vergesellschaftungsmaterial mangelt.

Es fehlt diesen Gruppen – selbst wenn sie aus einem einzigen Land und einem gemeinsamen Kulturraum kommen – ein wesentlicher Entwicklungsschritt, um vom Vergemeinschaftungs- zum Vergesellschaftungsmodell der Sozialität zu gelangen, wie schon Jack Goody in „Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa“ und Max Weber in „Wirtschaft und Gesellschaft“ schrieben. Sie befinden sich in einem Zustand der Vergemeinschaftung aufgrund persönlicher und verwandtschaftlicher Beziehungen, der im Abendland seit der Spätantike durch die Ächtung von Verwandtenehe und Polygamie sowie andere Mechanismen überwunden wurde und ab dem 14. Jahrhundert in die Herausbildung von Normen und Institutionen mündete, die eine anonyme Vergesellschaftung im Sinne moderner Staaten ermöglichten.

Es wird zu einer Renaissance des Ordnungsstaates kommen. Dabei ist abzusehen, daß vergesellschaftungsfähige Gruppen gegenüber jenen, die lediglich vergemeinschaftungsfähig sind, die Oberhand gewinnen werden.

Bei den meisten Migranten finden wir aber nur Vergemeinschaftung in relativ kleinen Gruppen von maximal 300 Mitgliedern. Das ist ein sehr wesentlicher Unterschied zu dem uns vertrauten Vergesellschaftungsmuster, da bei Konflikten nicht davon ausgegangen werden muß, daß die Migranten als Gesellschaften, sondern eher als kleine Gemeinschaften um ihre Interessen kämpfen.

Was ist mit den neuen Verlierern? Es sind Absteiger, die bis April 2020 voll am Wertschöpfungsprozeß beteiligt waren und nun durch Verlust des Arbeitsplatzes oder des Realgehaltes Einkommen oder Eigentum verloren haben oder es verlieren werden, weil sie etwa ihre Hypothek nicht mehr bedienen können.

Solche Verlierer kommen aus allen Schichten, die nicht über ein Realeigentum verfügen, das über das eigene Wohnhaus hinausreicht. Sie sind gut, sehr gut und erstklassig ausgebildete, hochmoderne Funktionsträger unserer Gesellschaft. Ihre Vergesellschaftungsmechanismen umfassen das volle Repertoire moderner Sozialität: Verbände, Parteien, Gewerkschaften, Vereine, Gesellschaften, Genossenschaften, Institutionen und viele andere.

Sie sind hochgradig organisierbar und dafür nicht auf Verwandtschaft oder Bekanntschaft angewiesen. Historische Beispiele dieser Organisierbarkeit sind Generalstreiks, Mobilmachungen, Massendemonstrationen oder kollektiver ziviler Ungehorsam, wie in den 1980er Jahren im Kampf gegen die Volkszählung oder die Atomenergie, der Kampf gegen die Deindustrialisierung des Ruhrgebiets oder die Demonstrationen beim Untergang der DDR. Dabei wird auf abstrakte kollektive Normen und Werte zurückgegriffen, mit denen sich qualifizierte Verlierer identifizieren und massenhaft mobilisieren lassen.

Was bedeutet dies für die Verteilungskämpfe? Zunächst ist festzustellen, daß die politische Repräsentation durch die Parteien sich drastisch ändern wird, wenn die neuen Verlierer sich zu organisieren beginnen. Ernsthafte materielle Themen werden dann die heute vorherrschenden ideologischen, nominalistischen, antimaterialisischen Themen wie Gender, Rasse, Grippeviren oder Klima verdrängen, und zusätzlich wird eine andere Art von Politikern die heutige Sonnenscheingeneration ablösen.

Es wird auch zu einer Renaissance des Ordnungsstaates kommen. Dabei ist abzusehen, daß Gruppen, die sich mit Hilfe von Mechanismen der Vergesellschaftung organisieren können, gegenüber Gruppen, die lediglich vergemeinschaftungsfähig sind, die Oberhand gewinnen werden – weitgehend unabhängig davon, wie die relativen Anteile der Gruppen an der Bevölkerung verteilt sind.

Daher ist klar, wer sich durchsetzen wird: die neuen Verlierer und diejenigen Migranten, die vergesellschaftungsfähig sind wie die Tschetschenen in Frankreich. Es ist zu hoffen, daß die Renaissance des Ordnungsstaates möglichst früh einsetzt, damit die Verteilungskämpfe nicht dauerhaft und flächendeckend mit Gewaltmitteln auf der Straße ausgetragen werden, wie dies punktuell jüngst in Dijon oder Stuttgart der Fall war.






Johannes ­Eisleben, Jahrgang 1971, ist Mathematiker und arbeitet als Systeminformatiker. Er publiziert auf dem Portal ­achgut.com sowie in der Zeitschrift Tumult. Mit seiner Familie lebt er bei München. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Krankheitscharakter der Transsexualität („Opfer der Genderideologie“, JF 13/20).

Foto: In Flensburg findet sich die Skulptur eines Briefträgers in Uniform mit Postmütze, beschmiert mit der Aufschrift Loser auf seiner Stirn: Nur wer sich künftig zu größeren Gruppen organisieren kann, wird im wahrscheinlich eintretenden wirtschaftlichen Abschwung auf die Verteilung der Güter Einfluß nehmen können