© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/20 / 10. Juli 2020

Spekulationen reichen bis nach Neuschwabenland
Vor 75 Jahren steuerten etliche Wochen nach der Kapitulation deutsche U-Boote amerikanische Häfen an
Andreas-Renatus Hartmann

Der Morgen des 10. Juli 1945 im argentinischen Marinestützpunkt Mar del Plata war kühl und nebelig. Die Posten auf den Schiffsbrücken hatten sich an Bord zurückgezogen oder dösten in ihren Wachhäuschen still vor sich hin. Der Krieg gegen Deutschland, in den Argentinien am 27. März 1945 als einer der letzten Staaten der Welt eingetreten war, hatte mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 sein Ende gefunden und das Leben im Land des Tangos war seitdem wieder zu seinem gewohnten beschwingten Rhythmus zurückgekehrt. Im Hafen von Mar del Plata dümpelten daher an jenem Morgen die argentinischen Kriegsschiffe sorglos in einer lauen Brise, als vor den ungläubigen Augen der Wachen plötzlich eine große rostbraune, stählerne Masse in der Hafeneinfahrt auftauchte, sich als das deutsche Unterseeboot U-530 zu erkennen gab und seine Kapitulation signalisierte. 

U-530 war nicht das erste deutsche U-Boot, das nach dem Ende des Krieges an der Küste Amerikas auftauchte. Die erste große Überraschung erlebten die Siegermächte am Vormittag des 19. Mai 1945 mit dem Einlaufen von U-234 in den US-amerikanischen Hafen von Portsmouth. Mit seiner Länge von 90 Metern war U-234 das größte deutsche U-Boot, das die Alliierten bisher gesehen hatten. Doch mehr noch als die Ausmaße des Boots überraschte die US-Amerikaner die eigenartige Zusammensetzung der Besatzung, die nach dem Festmachen von Bord ging. Als erster erschien Generalmajor Ulrich Kessler, Chef des Verbindungsstabs der deutschen Luftwaffe in Tokio. Dann kam die U-Bootbesatzung, einschließlich des Kommandanten, Kapitänleutnant Johann-Heinrich Fehler, und am Ende ein knappes Dutzend Zivilisten, unter ihnen mehrere Nuklearwissenschaftler, ein Experte für Radar- und Nachrichtentechnik, ein Spezialist für Flugabwehr und zwei Techniker der Messerschmitt Flugzeugwerke AG. Für noch mehr Überraschung sorgte allerdings die ungewöhnliche Ladung des U-Boots. Die Amerikaner fanden an Bord: 560 Kilogramm angereichertes Uranium (U 235), Zündsätze zum Auslösen von Nuklearreaktionen in Bomben, zwei in Einzelteile zerlegte ultramoderne Messerschmitt Jagdflugzeuge (Me 163 und Me 262) sowie alle Pläne zur Nutzung und Bedienung des eingelagerten Materials.

Im anschließenden Verhör der Besatzung erfuhren die Amerikaner, daß der Zielhafen von U-234, das am 24. März 1945 aus Kiel ausgelaufen war, Japan gewesen war, wo das eingelagerte Material zur Verstärkung der japanischen Luftabwehr und vor allem zur Befähigung Japans zur atomaren Kriegsführung beitragen sollte. Als U-234 am 8. Mai 1945 den Funkspruch von Großadmiral Karl Dönitz mit der Nachricht vom Ende des Kriegs in Europa und dem Befehl zur Kapitulation erhielt, beschloß die Schiffsführung nach längerer Diskussion dem Befehl Folge zu leisten, die Fahrt nach Japan abzubrechen und den nächstgelegenen alliierten Hafen anzulaufen.

Nach dieser ersten Erfahrung mit dem Eintreffen von deutschen U-Booten wird verständlich, warum das Einlaufen von U-530 zwei Monate später im argentinischen Mar del Plata für helle Aufregung sorgte. Diesmal war es jedoch nicht die Ladung des U-Boots, die im Zentrum der Verhöre stand, sondern die Frage, welchen Auftrag das Boot hatte und wo es zwischen dem 8. Mai und dem 10. Juli 1945 gewesen war. 

Anhaltende Gerüchte über die U-Boot-Missionen

Trotz intensivster Befragungen erhielten die Alliierten jedoch auf keine dieser Fragen eine befriedigende Antwort. Das Logbuch des Boots war verschwunden, die Personalpapiere der Besatzung waren unauffindbar, und auch der Kommandant von U-530, der 25jährige Oberleutnant Otto Wermuth, zeigte sich nicht sonderlich gesprächig. Seitdem gärt bis heute weltweit die Gerüchteküche: In NS-Esoterikerkreisen wird über die Fahrt von U-530 zu einem geheimen NS-Stützpunkt auf der Antarktis schwadroniert und unter Nazi-Jägern über die Anlandung von NS-Größen über die „Rattenlinie“ an der argentinischen Küste spekuliert.

Noch größer wurde die Aufregung, als einen Monat später, am 17. August 1945, mit U-977 ein weiteres deutsches U-Boot in Mar del Plata einlief. Zwar zeigte sich Oberleutnant Heinz Schaeffer, der Kommandant des Boots, weitaus gesprächiger als sein Kamerad von U-530 und schrieb selbst ein Buch über die Fahrt seines Bootes. Doch auch seine Aussagen waren voll von Lücken und Widersprüchen und verstärkten bei den Alliierten nur die Überzeugung, daß U-530 und U-977 mit Geheimkommandos unterwegs gewesen waren, denen auch mit den besten Verhörmethoden nicht auf die Spur zu kommen war.  

Damit gehören die Nachkriegsfahrten dieser beiden U-Boote, genauso wie der Verbleib des Bernsteinzimmers oder anderer Teile der NS-Kriegsbeute, zu den letzten großen ungelösten Rätseln des Dritten Reiches und werden es wohl auch für immer bleiben.