© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/20 / 17. Juli 2020

Hagia Sophia in Istanbul wird zur Moschee umgewandelt
Russisches Roulette
Jürgen Liminski

Erdogan hält sich für einen „Ghazi“, einen Eroberer von und mit Allahs Gnaden. Aber die Türkei ist heute wieder einmal das, was Zar Nikolaus I. schon 1852 dem britischen Botschafter sagte: der kranke Mann am Bosporus. Der heutige „Zar“, Wladimir Putin, weiß das. Die Europäer ahnen es vielleicht, Washington traut dem Sultan nicht mehr. Entsprechend sind die Reaktionen nach dem Willkürakt mit der Hagia Sophia. Washington wartet ab, immerhin liegen in der Luftwaffenbasis Incirlic rund 50 Atombomben, ein Drittel aller amerikanischen Atomwaffen östlich des Atlantiks. Rußland dagegen könnte bald der Geduldsfaden reißen. In Syrien und Libyen kämpfen Islamisten im Sold Ankaras gegen Verbündete Moskaus.

Mit dem Affront von Istanbul geht Erdogan nun nicht nur auf militärischem Gefechtsfeld gegen Moskau vor, sondern auch auf dem weit stärker verminten Gelände der Religion. Damit hat er eine rote Linie überschritten. Denn hier geht es auch um die Glaubwürdigkeit des Kremls, der Schutzmacht der Orthodoxen. Und die ist beim heimlichen Ringen um Geist und Herz der Völker auf dem Balkan und im Kaukasus, der dritten Front, entscheidend. Erdogan handelt aus innenpolitischen Gründen. Aber sein Spiel gleicht russischem Roulette, der Schuß könnte losgehen und seinen wirtschaftlichen und politischen Niedergang beschleunigen. Kranke Männer sterben gewöhnlich schneller als gesunde.