© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/20 / 17. Juli 2020

Steven Pinker. Der linksliberale US-Wissenschaftsstar gerät in Verdacht, reaktionär zu sein
Vor der Löschung
Michael Walker

Der Harvard-Professor Steven Pinker ist das jüngste Opfer der sogenannten „Cancel culture“ (Kultur der Löschung). So nennt man in den USA das grassierende Unwesen, Menschen, die es wagen, gegen den linken Sprach- und Verhaltenskodex zu verstoßen, aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen, indem man ihre Reputation zerstört. 

Dabei zählt der Kanadier und säkulare Jude, geboren 1954 in Montreal, zu den „wissenschaftlichen Superstars“ (BBC): Nicht nur daß die Zahl seiner akademischen Preise und Ehrendoktortitel längst unübersichtlich ist, mehrfach fand er sich auch auf den Listen der hundert „wichtigsten Wissenschaftler“ oder der „einflußreichsten Intellektuellen“ wieder – zweimal war er gar für den Pulitzer-Preis nominiert. Der Psycholinguist und Kognitionswissenschaftler versteht es, seine Themen der Öffentlichkeit verständlich und humorvoll zu präsentieren, was ihn zum gefragten Vortragsredner, Gastautor in führenden Medien und Bestsellerautor gemacht hat. 

Obgleich in seiner Jugend zeitweilig Anarchist, nennt sich Pinker heute „Individualfeminist“, sieht sich aber eher im liberalen als im linken Spektrum beheimatet. In seinen Büchern, wie „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“ (2011) oder „Aufklärung jetzt! Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt“ (2018) präsentiert er sich als Verfechter sozialen Fortschritts durch evolutionäre Prozesse, der die Menschen immer besser und glücklicher mache – solange die Vernunft dabei die bestimmende Kraft sei. Pinkers große Angst ist, diese Kultur der Vernunft könne unter Druck geraten, und er warnt, ein sich ausbreitendes Klima der Intoleranz in der akademischen Welt ausgemacht zu haben. Insbesondere der Art, daß alternative Ansichten beschwiegen, ja gar zum Schweigen gebracht würden. Und so findet sich sein Name neben dem etwa 150 anderer Intellektueller unter dem offenen Brief für „Gerechtigkeit und offenen Diskurs“, der am 7. Juli im New Yorker Harper’s Magazine erschienen ist.   

Damit aber hat Pinker den Zorn der „Cancel culture“ auf sich gezogen, zumal er diese auch noch öffentlich als „orwellian“ (orwellhaft) geißelte. In einem offenen Brief an die amerikanische Linguistische Gesellschaft fordern nun 600 Akademiker, Pinkers Mitgliedschaft dort und seine Position als deren Sprecher aufzuheben. Schließlich habe Pinker immer wieder „Ungerechtigkeiten verharmlost“. Etwa als er 2015 twitterte: „Die Polizei tötet Schwarze nicht überproportional. Das Problem ist nicht Rasse, sondern zu viel tödliche Polizeigewalt.“ 

Noch wurde Pinker zwar nicht „gecancelt“, doch ist der „Cancel Culture“ ein Teilsieg gelungen: Er kündigte an, künftig vorsichtiger zu sein, was er twittere. Und zweifellos haben wir noch nicht zum letztenmal von dem gehört, was Steven Pinker einen „bizarren und intoleranten“ Trend zur „Anti-Aufklärung“ nennt.