© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/20 / 17. Juli 2020

UND GOTT SPRACH: ES WERDE KAMPEN!
Was brauchen wir Biarritz oder Capri, wenn wir Husum und Sylt vor der Nase haben? Die herb-schöne Küstenregion Nordfrieslands zeugt vom Ringen des Menschen mit der Nordsee
Hinrich Rohbohm

Göljn as e hamel di samereen,/ göljn as dåt eekerfälj,/ än göljn as dåt häär foon min Anemaleen,/ wat san we duch rik heer foon gölj. ... Joo, üüsen foone, di as sü smuk,/ sü smuk as min Anamaleen;/ än wansch ik en mansche trou, liiwde än luk,/ sü flåg ik ma gölj, rüüdj än ween.“

Haben Sie alles verstanden? Nein? Falls nicht, so wird das daran liegen, daß der obige Text in nordfriesischer Sprache verfaßt ist. Einer Sprache, die sogar in Nordfriesland selbst nur noch knapp 10.000 Menschen verstehen. Nur sie würden erkennen, daß es sich bei den Worten um die erste und vierte Strophe der Hymne Nordfrieslands handelt, die ins Hochdeutsche übersetzt lauten:

„Golden im Sommer die Tage gehen,/ golden im Herbst jedes Feld,/ und golden das Haar meiner Annemaleen,/ voll Gold und voll Glück unsre Welt./ ... Siehst du die Fahne Nordfrieslands wehn,/ in Gold, Rot, Blau hoch im Wind,/ so wünsche ich dir, daß wie Annemaleen/ sie Glück, Liebe, Treue dir bringt.“

Die Farben der Nordfriesland-Flagge symbolisieren treffend die Landschaft, die Nordfriesland ausmacht: das blaue Meer, die goldgelben Strände und Dünen. Dazu die Sonne, die man bei gutem Wetter im Westen als glühenden Feuerball im Meer versinken sieht und das „Rote Kliff“ auf Sylt in einem einzigartigen Farbenspiel mit einem Rotschimmer förmlich zum Glühen bringt.

Geht es nach Nordfrieslands prominentester Person, so müßte sich auch noch Grau in das Farbenspiel einreihen. „Am grauen Strand, am grauen Meer und seitab liegt die Stadt; der Nebel drückt die Dächer schwer, und durch die Stille braust das Meer eintönig um die Stadt.“ So beschreibt Theodor Storm in seinem 1852 verfaßten Gedicht „Die Stadt“ seinen Heimatort Husum.

Im Husumer Hafen liegt eine Krabbenkutterflotte

Hier wurde der Schriftsteller am 14. September 1817 geboren. Sein Geburtshaus steht heute noch. Mitten auf dem Marktplatz von Husum, Marktstraße 9. Ein dunkelroter Backsteinbau mit blaugrauen Dachpfannen, grüner Eingangstür und mit Sprossenfenstern versehen. Typisch friesisch. Heute befindet sich ein Uhren- und Schmuckgeschäft darin. Über der Eingangstür ist ein grün-graues Schild angebracht. Mit dem Hinweis darauf, daß dies das Geburtshaus Theodor Storms ist.

Das Grab des Schriftstellers befindet sich ebenfalls in Husum. Keine 600 Meter vom Geburtshaus entfernt, auf dem St.-Jürgen-Friedhof. Die bereits 1807 unter Verwendung alter Grabplatten für die Familien Woldsen und Storm errichtete Ruhestätte: passend in Grau gehalten.

So wie das Wetter an diesem Tag, als wir Husum einen Besuch abstatten. Storm-Wetter, das dem quirligen Treiben am Binnenhafen jedoch keinen Einhalt gebietet. Geschäfte und Restaurants reihen sich hier aneinander. Die Hausfassaden, bunt statt grau, stellen dagegen einen Stilbruch zu Storms „Die Stadt“ dar. An einem Verkaufsstand hat sich eine kleine Menschenschlange gebildet. „Hier, mein Bester, laß es dir schmecken“, dröhnt es herüber. Husumer Krabbenbrötchen gibt es da. Eine regionale Spezialität. Der Krabben wegen natürlich. Der Husumer Hafen beheimatet sogar eine kleine Krabbenkutterflotte. Sechs Euro kostet das Rundstück. Teuer? Vielleicht. Ist es aber auch wert. Die Krabben schmecken so fangfrisch, als wären sie gerade erst von den Kuttern entladen worden. Das knackige Brötchen ist noch warm. Beides zusammen: ein kulinarisches Gedicht. Kann man nicht beschreiben. Einfach reinbeißen und erleben.

Mit dem Krabbenbrötchen in der Hand geht’s auf zur Wasserreihe 31, nur wenige hundert Meter vom Binnenhafen entfernt. Hier befindet sich das Theodor-Storm-Haus. Ein altes Husumer Kaufmannshaus, in dem der Schriftsteller 14 Jahre lang gelebt und gewirkt hat. Heute ist es ein Museum und somit für Besucher zugänglich. Die Fassade des Gebäudes ist selbstverständlich grau. Farbiger geht es im Inneren zu. Etwa in Storms einstigem Arbeitszimmer. Dessen Wände sind dunkelrot gestrichen, die Zimmerdecke mit dunklem Holz vertäfelt. Storms Schreibtisch, an dem viele seiner Gedichte und Novellen entstanden, ist im Original erhalten. Wie auch viele andere Möbelstücke.

Fast wirkt es so, als sei Theodor Storm nur verreist und würde bald wiederkommen. Wie er es 1887 tat, ein Jahr vor seinem Tod. Storm arbeitet damals an seiner berühmtesten Novelle, dem „Schimmelreiter“. Doch er kommt nicht weiter, hat Schreibblockaden. „Der Elan fehlt, ohne den es nichts wird“, teilte er seinem Verleger im Juli 1887 mit.

Bereits schwer an Magenkrebs erkrankt, begibt er sich gemeinsam mit seiner Tochter Lucie auf eine Reise zur Insel Sylt, um sich zu erholen und von Wind und Nordseewellen neu inspirieren zu lassen.133 Jahre später folgen wir ihm.

Bequem fahren wir mit der Bahn über den Hindenburgdamm nach Westerland, dem Zentrum der Insel. Für Storm ist die Anreise umständlicher. Die Eisenbahnverbindung gibt es noch nicht. Er reist mit dem Zug ins nordschleswigsche Tondern, damals noch zum Deutschen Reich gehörig. Von dort zum Einschiffen nach Hoyer und dann mit dem Fährschiff nach Munkmarsch auf die Sylter Ostseite. In der „Fremdenliste“ der Sylter Kurzeitung vom 9. August 1887 ist die Ankunft des Amtsgerichtsrats a. D. und seiner Tochter vermerkt.

Wie Storm quartiert sich auch die JF auf Westerland ein. Heute stehen Hunderte Inselbesucher Abend für Abend an der Promenade des Hauptortes von Sylt, um sich den spektakulären Sonnenuntergang anzusehen. Storm dürfte es ähnlich ergangen sein. Vor allem beim Spaziergang entlang der Dünen Richtung Wenningstedt und zum Roten Kliff dürfte er seine Inspirationen erhalten haben. Weites, endloses Meer in der Abendsonne. Das Rauschen der Wellen und ihre Gischt. Die zartgrünen Gräser auf den Dünen. Der Duft von Hagebuttenblüten. Und das Rote Kliff zwischen Wenningstedt und Kampen, das phantastischen Ausblick auf Dünen, Strand und Meer gewährt und das, in den Abendstunden von den letzten Strahlen der Sonne erfaßt, rötlich zu glühen scheint, wodurch es sich seinen Namen erwarb.

Storm war von dieser einzigartigen Landschaft und seinem Farbenspiel offenbar dermaßen beflügelt, daß er nicht nur den „Schimmelreiter“ beenden konnte, sondern mit der „Sylter Novelle“ ein weiteres Werk begann, das als Fragment erhalten geblieben ist. Erst 1969 sollte es bekannt werden. Es ist die Liebesgeschichte zwischen einem Schiffer und der Tochter des Landvogts, deren tragisches Finale sich an Strand und Dünen zwischen Westerland und Wenningstedt abspielt.

„Die Tochter des Landvogts geht gern in die Dünen. Es spukt dort; Geheul und Geschrei“, raunt es in der Novelle. Ein Geheul und Geschrei, das man beim Gang durch die Dünen auch heute noch gut nachempfinden kann. Erzeugt durch die stetig steife Brise, die über die Sandhügel fegt.

„Sie gerät in ein Dünental, läuft im Dämmern gegen einen Pfahl, der im Sande eingerammt ist. Sie sieht auf: Da stehen wohl über zwanzig Pfähle. Sie weiß es, man hat es ihr gesagt; da liegen die Heimatlosen, die Gestrandeten, die Erschlagenen. Ihr graut. Sie läuft zwischen den Pfählen durch. Da – Geheul von einer Seite, es antwortet von der anderen“, fängt die Novelle die unheimliche Stimmung ein.

Die Heimatlosen gibt es wirklich. Nur liegen sie heute nicht in den Dünen, sondern auf einem eigens für sie errichteten Friedhof an der St.-Christophorus-Kirche in Westerland begraben. In Wenningstedt, dem zentralen Ort der „Sylter Novelle“, beginnt das Rote Kliff. Eine 30 Meter hohe Steilküste, die sich bis zur Kampener Westheide nach Norden zieht.

Unter ihm: Breiter, feiner und weißer Sandstrand, an dem sich hohe Wellen brechen. In Höhe Kampen führt ein Holzsteg über den Kamm des Kliffs. Folgt man ihm, macht er eine Biegung ins Landesinnere, gelangt zur mit 52,5 Metern höchsten Erhebung der Insel: der Uwe-Düne. Benannt nach dem Juristen Uwe Jens Lornsen, der zwischen 1793 und 1838 lebte, auf Sylt geboren wurde und als Vorkämpfer für ein vereintes und unabhängiges Schleswig-Holstein wirkte, als dieses noch zu Dänemark gehörte.

Eine Holztreppe führt über 110 Stufen zum Dünengipfel. Lohn für den Aufstieg: eine Aussichtsplattform mit atemberaubendem Blick über Sylt. Über die schmucken Reetdachhäuser von Kampen. Jenen Ort, an den sich 1946 der Schriftsteller Ernst von Salomon zurückgezogen hatte, um vom nationalrevolutionären Hitzkopf zu einem bedeutenden Schriftsteller zu reifen. „Kampen war immer meine Zuflucht, wenn die Zeiten mulmig waren“, ist von ihm als Zitat belegt. In einem anderen huldigt er dem Ort noch mehr: „Und Gott sprach: Es werde Kampen.“

Beim Blick nach Norden bleiben die Augen an den Kliffende-Häusern hängen, in denen einst Persönlichkeiten wie Thomas Mann, Emil Nolde oder Ernst Rowohlt logierten. Ein weiß getünchtes, reetgedecktes Anwesen, das 1923 erbaut wurde, die längste Zeit als Gästehaus diente und heute bedenklich nahe an der Abbruchkante liegt, Sturmfluten trotzend – wie lange noch? Gen Osten fällt der Blick über Heidelandschaften hin zum Langen Christian, einem schwarz-weißen Leuchtturm.

Leuchttürme sind die Wahrzeichen Nordfrieslands. Einer der imposantesten von ihnen steht auf einer Warft vor dem Ort Westerhever auf der Halbinsel Eiderstedt. Einen Kilometer vor dem Seedeich im Jahre 1906 auf Westerheversand errichtet, überwachten Leuchtturmwärter über Jahrzehnte von hier aus das Meer. Heute wird der Turm computergesteuert betrieben. In den beiden Wärterhäusern befindet sich nun eine Schutzstation des Nationalparks Wattenmeer, einer weiteren Schönheit Nordfrieslands. Mit einer Fläche von über 4.400 Quadratkilometern ist es Deutschlands größter Nationalpark. Gemeinsam mit den Halligen bildet es ein von der Unesco anerkanntes Biosphärenreservat und wurde 2009 als Weltnaturerbe eingetragen.

Auch die Halligen sind eine Einzigartigkeit Nordfrieslands. Kleine, ungeschützte Marschinseln, die nur wenige Meter über dem Meeresspiegel liegen und bei Sturmfluten regelmäßig überschwemmt werden. Sie gruppieren sich rund um die Insel Pellworm.

Deiche, Köge, Halligen und Warften, Nebel und Regen

Eine von ihnen mit Anbindung ans Festland ist die Hamburger Hallig, die ihren Namen dem Umstand verdankt, daß sie im Jahre 1624 von den Hamburger Kaufleuten Rudolf und Arnold Amsinck erworben wurde. Noch auf dem Festland, am Sönke-Nissen-Koog, befindet sich das Amsinck-Haus. Ausgangspunkt für die Fahrt zur Hallig. Sechs Euro kostet es mit dem Auto, zwei Euro mit dem Fahrrad. Wir wählen letzteres. Mehrere Dutzend Räder stehen bereit. Aber der Verleih hat schon geschlossen. Macht nichts. „Das wird hier ganz locker gesehen“, ruft uns jemand zu. „Die Räder sind alle nicht abgeschlossen. Schnappen Sie sich eines, und schmeißen Sie zwei Euro in die Box am Haus.“

Gesagt, getan. Ein Damenrad mit verrosteter Kette und eiernder Pedale muß die vier Kilometer lange Strecke durchhalten. Mitten durch eine Schafherde geht es westwärts Richtung Warft. Starker Gegenwind bringt den Drahtesel fast zum Stehen. Dazu setzt Regen ein. Das Blöken der Schafe klingt schadenfroh.

Wind und Wasser trotzend geht es über die Salzwiesen Richtung Warft. Plötzlich huscht etwas Weißes vorbei. Schnell. Lautlos. Nein, es ist nicht der Schimmelreiter. Nur ein weißer Elektro-Pkw.

Surreal dagegen die Bilder, die nun am Horizont auftauchen: Bäume und Häuser, in der Luft schwebend. Fast wie bei einer Fata Morgana. Beim Näherkommen wird klar: Es sind die Inseln und Halligen, die diese Sinnestäuschungen im Zusammenspiel mit der flachen Landschaft mit Wiesen, Watt und Meer erzeugen.

Zu Gegenwind und Regen gesellt sich der Anstieg zur Warft. Dann ist es geschafft. Im Hamburger Haus sorgen frische Nordseekrabben mit Schnittlauchrührei, Nordstrander Bratkartoffeln und knackiger Salat für Stärkung. Und vor dem Haus laden Holzbänke mit Panoramablick auf Föhr, Pellworm und die anderen Halligen zum Verweilen ein. Sofern sich die Wolken verziehen.

Irgendwo dazwischen muß Rungholt gelegen haben. Ein Ort, der lange Zeit als sagenumwoben galt und einst im Meer versank. Eine dieser Sagengeschichten lautet, daß man manchmal im Watt noch die Kirchenglocken von Rungholt hören könne.

Erst in den zwanziger und dreißiger Jahren wird aus Sage Realität, als die Gezeiten Überreste einer Siedlung freispülten. Der Ort war nach der zweiten Macellus-Sturmflut, der sogenannten Groten Mandränke vom 16. Januar 1362 zerstört worden. Forscher vermuten heute sogar, daß Rungholt zu seiner Zeit fast ein ähnlich bedeutender Handelsort gewesen sein könnte wie etwa Kiel oder Hamburg. Kein Wunder, daß Nordfriesland die Phantasie der Schriftsteller beflügelt.