© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/20 / 17. Juli 2020

Sultan Recep I. bekommt seine Moschee
Türkei: Zum zweiten Mal verliert das Abendland die Hagia Sophia an einen islamischen Despoten / „Befreiung“ der Al-Aqsa-Moschee?
Jürgen Liminski

Zwei Männer bestimmten das Schicksal der Republik Türkei: Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, indem er die Trennung von Religion und Staat vollzog und die Türkei nach dem Untergang des Osmanenreiches in die Moderne führte. Und Präsident Recep Tayyip Erdogan, indem er diese Trennung rückgängig macht, die Türkei wieder in eine orientalische Despotie wandelt, genauer: in eine islamische Diktatur, und zu einer Großmacht ausbauen will mit osmanischen Zügen.

Der jüngste Beleg ist die Umwidmung der Hagia Sophia von einem Museum in eine Moschee. Fast tausend Jahre lang hatte das imposante Bauwerk den christlichen, byzantinischen Herrschern als Krönungskirche gedient, dann seit der Eroberung Konstantinopels durch Sultan Mehmed II. 1453 wurde sie der Christenheit entrissen und als Moschee umgewidmet, bis Atatürk sie 1935 zum Museum für Besucher aus aller Welt machte. Und jetzt ist sie wieder eine Moschee, was sich durch die Muezzin-Rufe von einem der nachträglich gebauten Minarette seit einigen Monaten schon ankündigt hatte. Formal lag dieser Entscheidung ein Urteil des Obersten Verwaltungsgerichts zugrunde, das sich darauf bezog, daß die Hagia Sophia Eigentum der von Sultan Mehmed II. gegründeten Stiftung sei, deren Nachlaß die türkische Stiftungsbehörde verwaltet.

Kritik kam deutlich und stark aus der orthodoxen Kirche Rußlands; sprich aus dem Kreml. Patriarch Kyrill I. beurteilte „die Bedrohung der Heiligen Sophia als eine Gefahr für die christliche Zivilisation“. Ähnlich scharf äußerten sich die griechische Kulturministerin und der zypriotische Außenminister. Gewohnt halbherzig und hasenfüßig meldeten sich die EU und die Unesco, immerhin gehört die Hagia Sophia zum Weltkulturerbe.

Die geopolitischen Folgen sind nicht absehbar. All das ficht Erdogan nicht an. Unmittelbar nach der erwarteten Gerichtsentscheidung ordnete er an, daß die Religionsbehörde Diyanet, die ihm direkt untersteht, die Leitung der Hagia-Sophia-Moschee übernimmt. Und er kündigte in einer TV-Ansprache an, daß schon am 24. Juli dort das Freitagsgebet stattfinden werde. Es solle eine Machtdemonstration gegen Kritik aus dem In- und Ausland sein.

Erdogan betont, daß es sich um eine Gerichtsentscheidung handelt, um die vielen säkular gestimmten Bürger Istanbuls mit ihrem oppositionellen Bürgermeister in Schach zu halten und auch um nach außen ein Stück Gewaltenteilung und demokratisches Gefüge behaupten zu können. Er hebt insbesondere seit dem Putsch vor vier Jahren die Gewaltenteilung Schritt für Schritt auf. Die freie Presse und die Unabhängigkeit der Justiz sind ferne Erinnerungen. Kritik kann die Freiheit kosten. Sie wird als Volksverhetzung gerichtlich geahndet.

Justiz und Presse sind längst nicht mehr kritisch

Er hat kritische Richter zu Tausenden entlassen und mehr als 150.000 Mitarbeiter aus dem öffentlichen Dienst entfernt. Den Ausnahmezustand goß er de facto in Gesetzesform, so daß der neue Sultan nach Belieben mit Dekreten regieren konnte. Das blieb nicht ohne Folgen: In den meisten Journalistenköpfen gehört die Schere der Selbstkritik zu den Standardinstrumenten. Das Demonstrationsrecht ist eingeschränkt. In der Rangliste der Pressefreiheit, die 180 Länder aufführt, liegt die Türkei an Stelle 154 – noch hinter Rußland und Weißrußland.

Des Sultans Spiel mit der Presse ist ohnehin ein eigenes. So schreibt die Jerusalem Post Erdogan gelobe in der türkischen Version seiner Rede anläßlich der Wiedereinrichtung der Hagia Sophia als Moschee ebenfalls die Al-Aqsa Moschee in Jerusalem von den Israelis zu befreien.

Die Demokratie brachte dem Land am Bosporus die freie Marktwirtschaft. Doch dank deren Aushöhlung und der gelenkten Wirtschaft rutscht das Schwellenland fortwährend in die Armut. Die Arbeitslosigkeit steigt seit Jahren. Zuverlässige Zahlen publizieren die türkischen Blätter indes nicht. Unabhängige Schätzungen sprechen von mindestens 30 Prozent und erwarten mehr nach der Corona-Krise.

Die Lira fällt. Seit Beginn des Jahres verlor sie 44 Prozent ihres Wertes. Die Inflation frißt die Reste an Handlungsoptionen des kritischen Mittelstands. Derweil steigen die Kosten für den Betrieb des neuen 1.000-Zimmer-Palastes des Möchtegern-Sultans unaufhörlich. Allein die Lebensmittel kosten umgerechnet fast eine Million Euro, von den Geldern für neue Sommer- und Winterresidenzen im ganzen Land ganz zu schweigen.

De facto liegt die Unterstützung für Erdogan auf dem niedrigsten Stand seit der Machtübernahme vor 18 Jahren. Erdogan regierende AKP selbst kann noch auf 30 Prozent der Wähler zählen und diskutiert daher erneute Wahlkreisreformen. Auch von vorgezogenen Neuwahlen ist die Rede

Aber so weit dürfte es kaum kommen. Erdogan nutzte Krisen stets, um demokratische Rechte zu beschneiden und seine Macht zu erweitern. Das gilt auch für Corona. So ließ er Tausende von Häftlingen frei – natürlich keine politischen. Zu befürchten ist, daß mehr Oppositionspolitiker verhaftet werden: vorzugsweise Bürgermeister, die ehemalige AKP-Mandate erobert haben. Diese könnten im Gefängnis auch auf Selahattin Demirtas, den Chef der Kurdenpartei HDP treffen.

Keine unabhängige Justiz, keine freie Presse, ein willfähriges Parlament – eine Regierung von des neuen Sultans Gnaden. Atatürks Gewaltenteilung ist Geschichte. Wer die Türkei heute als Demokratie bezeichnet, der kann Erdogan auch einen lupenreinen Demokraten nennen.