© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/20 / 17. Juli 2020

Läßt sich Geschichte berechnen?
Kliodynamik: Der Wissenschaftler Peter Turchin sagte vor zehn Jahren schwere Unruhen in den USA ab 2020 voraus – aufgrund von mathematischen Analysen
Björn Harms

Es war nur ein kurzer Aufsatz im Wissenschaftsmagazin Nature, von dem selbst in der Fachwelt zunächst kaum jemand Notiz nahm: „Die USA werden ab 2020 eine Periode großer sozialer Umwälzungen erleben“, prophezeite der Evolutionsbiologe Peter Turchin darin im Februar 2010. Der gebürtige Russe, der an der Universität von Connecticut lehrt, bezog sich dabei auf eigene, zuvor veröffentlichte Forschung. Seine quantitativen historischen Analysen hätten gezeigt, daß „komplexe menschliche Gesellschaften von wiederkehrenden und vorhersehbaren Wellen politischer Instabilität betroffen sind“ – so auch die USA.

Mit dem Tod des Afroamerikaners George Floyd am 25. Mai 2020 beschleunigten sich tatsächlich jene Prozesse, die Turchin damals beschrieben hatte. Das Land driftet gesellschaftlich auseinander, eine Versöhnung scheint kaum abzusehen. Ist der 63jährige also so etwas wie ein Neuzeit-Nostradamus? Blödsinn, sagt er selbst. Es gehe um reine Mathematik, nicht um irgendeine Kaffeesatzleserei. Was oder wer steckt aber hinter diesen prophetischen Analysen?

Die breite Masse in den USA verarmt

Peter Turchin ist Sohn des Informatikers Valentin Turchin, der als Sowjet-Dissident 1977 mit seiner Familie ins Exil in die USA übersiedelte. Turchin studierte zunächst Biologie, machte dann seinen Doktor in Zoologie. Anschließend begründete er mit einigen wenigen Mitstreitern ein Forschungsfeld, das 2003 erstmals den Namen Kliodynamik erhielt, abgeleitet von der griechischen Muse Klio, der Schutzpatronin der Historiker. Bis heute fristet das exotische Fach an den Hochschulen eher ein Außenseiterdasein. Unter Kliodynamik versteht man eine Art historische Makrosoziologie, die geschichtliche Prozesse anhand von mathematischen Modellen analysieren will, um so Prognosen für die Zukunft zu erstellen. Historiker, Politikwissenschaftler, Soziologen, Mathematiker und Biologen könnten immer nur einen Teil des Ganzen betrachten, meint Turchin. Warum nicht also versuchen, alles unter einen Hut zu bringen, um langfristige gesellschaftliche Brandherde zu identifizieren?

Natürlich seien „konkrete Auslöser von politischen Umwälzungen schwer, vielleicht sogar unmöglich vorherzusagen“, betonte der Wissenschaftler nochmals Mitte Juni dieses Jahres in seinem Aufsatz „Die strukturell-demographische Prognose für 2010–2020“. Die Zukunft könne natürlich nicht in ihrer Absolutheit bestimmt werden. Aber wie bei einem Waldbrand gebe es vorab meßbare Belastungen, die sich vom tatsächlichen Auslöser des Feuers unterscheiden. Demnach bauten sich „strukturelle Zwänge langsam und vorhersehbar auf und lassen sich analysieren“, meint der Forscher. Seine Vorhersage aus dem Jahr 2010 fuße genau auf solchen Berechnungen, namentlich der sogenannten Strukturell-demographischen Theorie (SDT), die vom US-Soziologen Jack Goldstone entwickelt wurde. Das von Turchin weiterentwickelte Modell basiert auf drei Großkategorien (Staat, Bevölkerung und Eliten), die untereinander interagieren und auch mit der gesellschaftspolitischen Instabilität verknüpft sind. Gleichzeitig werden diese Faktoren wiederum von verschiedenen Unterkategorien geprägt (siehe Grafik).

Die vier Blöcke erscheinen auf den ersten Blick recht simpel, doch jede einzelne Unterkategorie kann gravierende Veränderungen bewirken. Die Dynamik der Bevölkerungszahlen zum Beispiel wird von anderen Merkmalen beeinflußt, wie etwa dem Einkommen und dem Konsumniveau. Höherer Konsum oder auch sozialer Optimismus haben einen positiven Effekt auf das Bevölkerungswachstum. Das Wachstum wiederum kann zu einer vermehrten Urbanisierung führen. Dadurch kommt es zu einem Überangebot an Arbeitskräften, immer mehr Leute drängen in die Elite, die Staatsfinanzen stürzen ins Chaos. Das sei beispielsweise der Weg in den Englischen Bürgerkrieg (1640–1660) gewesen, schrieb Turchin 2013 im Fachjournal Cliodynamics, das er mit herausgibt.

Für die derzeitige Krise macht der Russe mit US-Staatsbürgerschaft vor allem drei Dinge verantwortlich: Zum einen verarmt die breite Masse – die Einwanderung etwa habe „wesentlich zum Verfall der Löhne in den USA in den letzten Jahrzehnten beigetragen“, sei aber natürlich nicht der einzige Grund. 

Der Staat kann sich in vielen Bereichen nicht mehr durchsetzen. Und, der wohl gewichtigste Faktor, der zur Instabilität eines Staates beiträgt: die Konkurrenz innerhalb der Elite nimmt zu. Was Turchin meint, ist eine Überproduktion an Personen, die in die Elite streben oder aber ihren Platz unter den obersten ein Prozent behaupten wollen. „Auch Trump begann seinen Weg als frustrierter Anwärter mit dem Ziel des gesellschaftlichen Aufstiegs. Er wollte Reichtum in Macht umwandeln“, erklärt Turchin. „Was ihm deshalb gelang, weil die Bevölkerung 2016 mit der etablierten Elite unzufrieden war. Seine Wahl aber hat die gesellschaftliche Polarisierung noch weiter verschärft, genauso wie die Konflikte innerhalb der Elite.“

Die Berechnungen münden dann in einem Politischen-Streß-Indikator (PSI), also dem Verlust der sozialen Resilienz des jeweiligen Staates (siehe Grafik). Der Soziologe Jack Goldstone hatte anhand des PSI bereits den Ausbruch des Englischen Bürgerkriegs (1640–1660), die Französische Revolution 1789 und die 1848er Revolution in Deutschland berechnet. Für die USA seien die Zahlen eindeutig, schreibt nun Turchin: „Die steigende Kurve des berechneten PSI deutet auf eine wachsende zukünftige sozialpolitische Instabilität hin.“

Vergleicht man nun den PSI mit der Realität, lassen sich sowohl für die USA als auch für andere Staaten gewisse Zyklen feststellen, erklärt Turchin. Gesellschaften würden immer wieder integrative und desintegrative Phasen durchlaufen. Auf sozialen Wohlstand und Zusammenhalt folgen Jahre des gesellschaftlichen Auseinanderdriftens. Diese „Zeitalter der Zwietracht“, wie Turchin sie nennt, dauerten meist rund 150 bis 200 Jahre. Sie ließen sich nicht nur für die USA feststellen, sondern auch für das Römische Reich, Ägypten, China oder Rußland.

In der amerikanischen Geschichte erkennt der 63jährige zwei große Zyklen. „Erstens gab es einen steigenden Wohlstand und eine Einheit der Eliten, die um 1820 ihren Höhepunkt erreichte. Von da an stiegen die Krisenindikatoren in den Jahren vor dem Bürgerkrieg (1861–1865) stark an.“ Die Krisenindikatoren gingen nach dem blutigen Krieg zwar leicht zurück, schnellten aber bis 1920 wieder in die Höhe – das Zeitalter der Jim-Crow-Gesetze (Rassentrennung) und der kommunistischen Arbeiteraufstände.

Erst Mitte der 1920er Jahre und später mit dem „New Deal“ von Präsident Roosevelt sei das Land zur Ruhe gekommen und in den zweiten Zyklus eingetreten. „Die 1950er Jahre waren ein goldenes Zeitalter für die Arbeiter und die Zusammenarbeit der Parteien“, meint Turchin. „Erst in den 1970er und 1980er Jahren begann sich die Lage wieder zu drehen. In den folgenden zwei Jahrzehnten stiegen die Krisenindikatoren ebenso stark an wie in den Jahrzehnten vor dem Bürgerkrieg. Die Medianlöhne sanken im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, und die Polarisierung der politischen Parteien erreichte neue Höchststände.

Der zweite Zyklus geht nun mit einem Rückgang des sozialen Zusammenhalts und sozialen Unruhen zu Ende. Nach den Daten von Turchin wird der gegenwärtige „Zyklus der Zwietracht“ in den USA etwa 2020 seinen Höhepunkt erreichen – und eine Periode extremer Gewalt und Umwälzungen einleiten.

Auch Westeuropa droht Phase der Instabilität

Wenn an den fundamentalen Antreibern der Instabilität nichts geändert werde, so Turchin, könnten „die sozialen Turbulenzen noch Jahre andauern“. Und das nicht etwa nur in den USA, sondern auch im westlichen Europa. Gesicherte Analysen gebe es zwar nur für die USA und Großbritannien. Dennoch sei klar, daß „die Zunahme der sozio-politischen Instabilität auch eine Reihe anderer westlicher Länder betrifft“. Das beweise etwa die dramatische Zunahme sowohl an Demonstrationen als auch gewalttätigen Unruhen in den vergangenen Jahren (siehe Grafik). Für ein bestimmtes Land aber wagt Turchin keine gesicherte Prognose: Deutschland. Warum? Die Wiedervereinigung 1990 bringe einfach viel zu viele Komplikationen in die Analyse.