© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/20 / 17. Juli 2020

Gewalt versteckt in weichen Worten
Michael Esders’ „Sprachregime“ als Lektüretip: Wie kommt es, daß die Bürger nicht aufbegehren?
Thorsten Hinz

Das „Sprachregime“ des Literaturwissenschaftlers, Philosophen und Marketing-Experten Michael Esders ist das Buch der Stunde und darüber hinaus eine der wichtigsten politischen Publikationen seit Rolf Peter Sieferles „Migrationsproblem“. Es ist – soviel vorweg – unerläßlich, um den Bolero des Irrsinns zu begreifen, der seit Jahren als Politische Korrektheit, Gender- und Klima-Ideologie, als „Kampf gegen Rechts“ und Willkommenskultur durch das Land tobt und sich gegenwärtig als Antirassismus zu ohrenbetäubender Lautstärke steigert. 

So werden aus den größten Verrücktheiten Wahrheiten

Wie kommt es, daß Menschen mehrheitlich einer Politik zustimmend beipflichten, die sich so offenkundig gegen ihre Lebensinteressen richtet und absehbar zur Selbstzerstörung eines leidlich funktionierenden Gemeinwesens führt? Die NS-Vergangenheit, der verinnerlichte Schuldkomplex oder die allgemeine Dekadenz, so Enders, liefern dafür nur partielle Erklärungen. Entscheidend sei die „Macht der politischen Wahrheitssysteme“, von denen der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) im Nachgang der sogenannten „Ausschreitungen“ in Chemnitz 2018 sprach. Sie konstituiert einen „smarten Totalitarismus der Vielfalt und Differenz“, der vom Medienapparat verwirklicht und durch Sanktionen beziehungsweise Sanktionsdrohungen gestützt wird.

Im ersten Kapitel beschreibt und analysiert Esders die Struktur und Funktionsweise dieser Systeme. Die geballte Medienmacht modelliert ein verzerrtes, ideologisiertes Abbild der Realität und trägt es im 24-Stunden-Betrieb in die Öffentlichkeit mit der Folge, daß die Wahrnehmungen, welche die fünf menschlichen Sinne mitteilen, allmählich außer Kraft gesetzt werden und das Denken und Empfinden sich in die offizielle Matrix einfügt. Gustave Le Bon hatte die vorschnelle Verallgemeinerung, die spontane Verknüpfung oberflächlich zusammenhängender Sachverhalte, die emotionale Aufwallung, kurzum: die Schlamperei im Geiste, als Merkmale der Psychologie der Massen festgestellt.

Diese spontanen Reaktionen werden von den Wahrheitssystemen formalisiert und professionalisiert. Der berühmt-berüchtigte Satz, daß eine Lüge, um geglaubt zu werden, nur oft genug wiederholt werden muß, wird durch die Hirnforschung bestätigt. Die permanente Aktivierung der entsprechenden neuronalen Schaltkreise führt zu ihrer Verfestigung, so daß aus den größten Verrücktheiten geglaubte Wahrheiten, ja physische Tatsachen werden, die sich gegen alle Einwände und kognitive Dissonanzen behaupten.

Begriffe werden emotional aufgeladen – „geframt“ –, also gezielt mit positiven oder negativen Assoziationen verbunden. Absolut negativ besetzt sind die „Grenze“ und die „Abschottung“, die mit Bildern toter Kinder oder der Berliner Mauer verbunden werden. Der entscheidende Unterschied zwischen diktatorischer Einsperrung nach innen und schützender Abschließung nach außen wird dabei genauso manipulativ verwischt wie die technische Tatsache, daß herabgelassene Schotten auf einem leckgeschlagenen Schiff lebensrettend sein können.

Durch solche auf Dauerfeuer gestellte sprachlich-semantische Tricks wird die Aufhebung der eigenen Grenzen und damit der Staatlichkeit zunächst zum moralischen und schließlich sogar zum einzig verfassungskonformen Imperativ erhoben. Die „moralische Kohärenz“ ersetzt die Logik und das Kriterium der Widerspruchsfreiheit einer Aussage.

Damit gerät das freie Denken – nach Kant der eigenständige Gebrauch des Verstandes – zunehmend unter Verdacht. Es ist nur folgerichtig, daß der Königsberger Philosoph im Zuge der „Black Lives Matter“-Kampagne ebenfalls in das Visier der Bilderstürmer geraten ist. Der Vorgang korrespondiert mit allgemein sinkenden Bildungsstandards.

Wenn selbst Studenten keine mehrteiligen Sätze sinnentnehmend lesen, geschweige denn bilden können, ist das ein Hinweis, daß den nachwachsenden Funktionseliten die Fähigkeit zu logischen Verknüpfungen abhanden gekommen ist. Der Rückgriff zum simplen Gut-Böse-Raster ist nur konsequent.

Das Sprachregime ist antitopisch – gegen eine „ortende Begriffssetzung“ gerichtet. Positiv besetzt sind Begriffe wie „Eine Welt“, „Weltoffenheit“ oder „Menschheit“, während „Staat“, „Nation“, „Volk“ als willkürlich ausgrenzende Konstrukte unter Verdacht stehen. Die ideologische und emotionale Grundierung dieser semantischen Verschiebungen liefert die „Hypermoral“, die Ausweitung der Familienmoral auf das „globale Dorf“. Ihren Narrativen geht Esders im zweiten Kapitel nach.

Ein Exzeß der französischen Postmoderne

Eine Variante ist die Kreierung künstlicher Mythen und mythischer Gestalten wie Greta Thunberg, eine andere die Personalisierung zur Beglaubigung ideologischer Wunschvorstellungen. Beispielhaft sind die Geschichten von syrischen Flüchtlingen, die prallgefüllte Geldbörsen auffinden, sie brav bei der Polizei abliefern und edelmütig auf Finderlohn verzichten. Solcher Haltungs-Journalismus à la Relotius & Co. hat die Hypermoral in eine Hyperfaktizität überführt. Die „Fake News“ waren bereits ein Instrument der Wahrheitssysteme, als noch niemand die Präsidentschaft Donald Trumps für möglich hielt.

Im dritten, dem anspruchsvollsten Kapitel, geht Esders den philosophisch-linguistischen Ursprüngen dieser aggressiven Sprachpolitik nach. Ihre Wurzeln identifiziert er bei den Theoretikern der französischen Postmoderne, die die verborgene oder verdrängte Bedeutung sprachlicher Zeichen durch die Dekonstruktion überkommener Diskurse und das Herausarbeiten der Differenz zur Geltung bringen wollten. Das ursprünglich berechtigte Anliegen wurde von der politischen Linken bis zum Exzeß gesteigert. Kollektive Verbindlichkeiten, die Geschlechter-Binarität und die Sprache selbst werden zu faschistoiden Zumutungen verklärt. Sprachverbote, ideologische Neologismen und Gendersterne formieren sich zu Orwells „Neusprech“. Unterm Strich läuft es darauf hinaus, erfahrbare Sachverhalte und Zusammenhänge unaussprechlich, schließlich undenkbar und Menschen zu Zombies zu machen, die nicht mehr wissen, wer sie sind. 

Esders erforscht in tiefgründiger Weise ein stringentes, gegen die Wirklichkeit immunes Verfahren, einen Mechanismus der „stählernen Beliebigkeit“, der mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks fortschreitet – was freilich nicht vollständig erklärt, warum er akzeptiert wird. Denn im Unterschied zu früheren Totalitarismen fehlt ihm ein plausibles Zukunftsversprechen. Offenbar spielen auch transzendente Bedürfnisse und kulturmorphologische Entwicklungen eine Rolle. Esders hat einen signifikanten Baustein für die noch zu schreibende Theorie des postmodernen Totalitarismus geliefert, der vor unseren Augen Gestalt annimmt. Ein schwieriges, ein brisantes, ein unverzichtbares Buch!

Michael Esders: Sprachregime. Die Macht der politischen Wahrheitssysteme. (Die Werkreihe von Tumult). Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, Lüdinghausen 2020, broschiert, 147 Seiten, 18 Euro