© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/20 / 17. Juli 2020

Spurensuche an der Moldau
Wenzelsplatz, Nepomuk und vergilbte Namen: Ein Sommerspaziergang durch Prag
Paul Leonhard

Eine Menschenmenge harrt der Dinge. Die Menschen schauen gebannt auf die prächtige astronomische Uhr an der Fassade. Dann ertönt ein schriller Hahnenschrei und alle blicken nach oben. Zwei Fenster öffnen sich und Apostel erscheinen, drehen eine Runde, verschwinden wieder, während darunter der Tod mit einer Sanduhr winkt. Wir sind in Prag, mitten im Herz der Altstadt.

Pünktlich fährt der Tschechen-Expreß von Hamburg über Berlin in seine letzte Station ein. Mein mißtrauischer Blick fällt auf einen Bahnsteig, der mich eher an Frankfurt/Main-Süd erinnert, als den prächtigen Prager Hauptbahnhof. Es geht die Treppen herunter und durch einen Gang, bis sich ein riesiger Raum öffnet: Es ist ein unterirdischer Einkaufsmarkt, dieser mag zwar modern sein, widerspricht aber meinen Erinnerungen an Pragaufenthalte vor 1990.

Dann aber ein Lichtschacht. Prächtiger Jugendstil zwinkert mir von oben entgegen. Figuren, Reliefs, Wappen, Bleiglasfenster. So prächtig hatte ich den Prager Hauptbahnhof nicht in Erinnerung.

Vorbei an dem dunklen Neubau des Heimatmuseums zieht mich die goldschimmernde Pracht des Nationalmuseums an. Da ist auch schon der schwarzglänzende heilige Wenzel auf seinem hohen Roß. Der gleichnamige Platz ist gesäumt von prächtigen Gebäudefassaden, deren älteste wohl aus dem 18. Jahrhundert stammen, während andere gerade erst errichtet wurden. Ein bunter Stilmix aus Art déco, neuer Sachlichkeit und Moderne des 21. Jahrhunderts.

Die berühmteste Prager Brücke ist wie gewohnt voller Straßenmaler, Musiker, Puppenspieler, fotografierenden Touristen. Von der Brücke bewundere ich das Ensemble der Prager Burg und den dahinter aufragenden Veits-Dom.

Dann tauche ich schon in den Barock der Kleinstädter Seite ein. Überall ragen vergoldete Spitzen in den blauen Sommerhimmel. Vor mir verschwinden zwei Spaziergänger in einer schlichten Tür, die am Ende einer hohen, langen, weißgetünchten, fensterlosen Mauer eingelassen ist. Ich folge neugierig. Ein riesiger Park tut sich auf. Er gehört zum Palais der Fürsten Wallenstein und birgt heute den tschechischen Senat.

Draußen verliere ich mich wieder im Gassengewirr und verzichte bei 27 Grad im Schatten auf den Aufstieg zur Burg. Ich laufe nicht über die Karlsbrücke zurück, sondern über die Manesuv-Brücke, die dafür aber einen Blick auf das Touristengewusel auf der anderen gibt. Die Spitzen der beiden Türme der Teynkiche – sie trägt eine vergoldete Madonnen­skulptur am Giebel – weisen den Weg zum Altstädter Ring mit dem mächtigen, schier aus der Zeit gefallenen Jan-Hus-Denkmal und einer nagelneuen Marien-skulptur, die jene ersetzt, die 1945 vom Sockel gestoßen wurde.

Prag hadert mit der langen deutschen Vergangenheit

Von deutschen Spuren ist kaum etwas zu sehen. Alles abgeschlagen oder verdeckt hinter neuen Fassaden und Anstrichen. Prag hadert ausgerechnet mit der Vergangenheit, die die Stadt am meisten geprägt hat. Gewiß, da war eine Fassade mit einem verrosteten Anker, an der sich noch mühsam das deutsche Wort „zum silbernen An“ entziffern ließ, aber sonst? Es gibt auch keine deutschsprachigen Hinweisschilder. Der Prager Jugendstil kommt sehr nationalistisch daher: Mosaiksteinchen bilden das Wappen des im Oktober 1918 aus den Ruinen des Habsburger Reiches entstandenen tschechischen Nationalstaates.

Und die Altstadt beiderseits der Moldau, in der an jeder Ecke Heiligenfiguren oder Mariendarstellungen an die katholische Lehre erinnern? Die Tschechen seien das atheistischste Volk Europas, habe ich einmal gelesen. Sollten die Prager anders sein oder zehren sie nur von dem, was deutsche Baumeister hinterlassen und tschechische Restauratoren erhalten haben? 

Tausend Jahre deutsche Geschichte in Prag läßt sich natürlich immer noch entdecken, aber man muß sehr genau hinsehen. Oder man nutzt eine Handy-App namens Samsa, die die deutsche Minderheit in Tschechien, genauer, die Landesversammlung der deutschen Vereine in der Tschechischen Republik, gemeinsam mit Germanistikstudenten der Karls-Universität entwickelt hat. Diese listet aktuell 23 Orte auf, die mit dem Leben und Wirken deutscher oder deutschsprachiger Künstler, Schriftsteller und Musiker verbunden sind oder an denen einst deutsche Vereine, Schulen oder andere Institutionen ansässig waren, wie beispielsweise das Gebäude der Deutschen Handelsakademie oder das Deutsche Theater. Im Veitsdom liegen mehrere Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation begraben. Und der Brückenheilige der Karlsbrücke, Nepomuk, war der deutsche Pfarrer deutscher Einwanderer. 

Unter einer Mariendarstellung steht ein gepolsterter Liegestuhl. Erschöpfte können sich sofort darauf legen und erhalten mitten auf der Straße eine Thai-Massage. Die gibt es gefühlt an jeder Ecke. Wie überhaupt die zahlreichen asiatischen Geschäftsleute in der Altstadt auffallen. Laden für Laden scheinen sie in Besitz zu nehmen. Die teilweise nur einen Meter tiefen Nischen in den Fassaden haben einheimische Händler besetzt. Häßlicher Nippes in der Form russischer Matroschka-Puppen scheint der neueste Hit zu sein. 

Prag hat sich den Touristen angepaßt. Wo es früher Knödel mit Gulasch gab, werden jetzt Pizzen und Burger angeboten. Ich laufe schnell zum Rathausturm, schaue noch einmal zu, wie die Eitelkeit den Spiegel zeigt, die Habgier den Geldbeutel schüttelt, der Türke den Kopf schüttelt und der Knochenmann mit der Sanduhr droht, bevor wieder ein Hahnenschrei alles beendet und die Uhr die Stunde schlägt. Gleich geht der Zug zurück.