© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/20 / 17. Juli 2020

Deutschland – Seiltänzer zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Noch kurz die Welt retten
Burkhard Voß

Die Deutschen sind übrigens wunderbare Leute! Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall hineinlegen, das Leben schwerer als billig.“ So Goethe (1749–1832) zu seinem Freund Eckermann.

Hat der Dichterfürst der Deutschen die komplizierten und dem Ideal hinterherjagenden Seelen seiner Landsleute richtig wahrgenommen? Wollen wir Deutschen die Welt so sehen, wie sie sein sollte und nicht wie sie tatsächlich ist? Sind wir nicht fähig zur dialektischen Betrachtungsweise, die es erlaubt, daß eine Sache so, aber auch ganz anders gesehen werden kann? Sind wir die Sklaven des Absoluten, unfähig, Ambivalenz zu ertragen? Auf der Jagd nach dem absolut Richtigen und dem ethisch Höchsten kann man sich schon mal verirren. En passant ein paar verdächtige Verirrungen.

• Vor 75 Jahren hat Deutschland die Welt an den Abgrund geführt. Heute will es die Welt retten. Gleichzeitig will es sich für vergangene Verbrechen entschuldigen und entschädigen bis ans Ende aller Tage. Hier könnte sich ein Wesenszug der Deutschen manifestieren, von einem Extrem ins andere zu fallen. So entsteht die groteske Situation, daß sich die, die nichts verbrochen haben, bei denen entschuldigen, die nichts erlitten haben. Der Schuldkult als ideale Lebensform, für immer?

• Gerettet wird die Welt natürlich in Deutschland. Das hat Sinn: Der CO2-Ausstoß der Deutschen liegt bei ungefähr zwei Prozent der weltweiten CO2-Emmissionen. Mit anderen Worten: Deutschland kann seinen CO2-Ausstoß verdoppeln, halbieren oder komplett auf null senken, die Wirkung auf das Weltklima wird bei wenig mehr denn null liegen. Aber das Land, das am wenigsten bewirken kann, führt die hitzigsten Diskussionen. Hätte das CO2-Molekül ein Bewußtsein, würde es sich, so wollen wir getrost annehmen, köstlich amüsieren.

So sind die Klimapolizisten von „Fridays for Future“ prinzipienverliebt, gründlich, grundsätzlich, faustisch. Je folgenloser ihr Handeln, um so edler dürfen sie sich fühlen. Eben die Deutschesten unter den Deutschen.

• In der Corona-Pandemie macht Deutschland seine Sache so gut, daß es Tausende von leeren Intensivbetten gibt. Deutschland ist wieder einmal Weltspitze: Fast schon wie im wilhelminischen Zeitalter. Doch die kommenden Jahre könnten zeigen, daß die Bemühungen zur Eindämmung der Viruserkrankung mehr Opfer haben als die Erkrankung selber. Zwar hat das schwedische Modell des Anti-Lockdowns zu deutlich mehr Verstorbenen geführt, aber die hierdurch erreichte Herdenimmunität könnte zu deutlich weniger Toten in einer möglichen zweiten Welle der Pandemie führen. Das vielfach propagierte virologisch-wissenschaftliche Licht wirft Schatten, in denen solche Szenarien nicht mehr sichtbar sein sollen.

Der Sozialstaat scheint den Deutschen heilig zu sein. Angefangen hat er mit der Bekämpfung existentieller Notlagen, nun scheint die Generalkompensation auch der merkwürdigsten Lebensformen und jeglicher Schicksale das Ziel zu sein.

• Der Sozialstaat scheint den Deutschen heilig zu sein. Angefangen hat er mit der Bekämpfung existentieller Notlagen, nun scheint die Generalkompensation auch der merkwürdigsten Lebensformen und jeglicher Schicksale das Ziel zu sein. Absoluter geht’s nicht. Weltweit werden wohl nirgendwo so viele „besondere Lebensformen“ – bloß keine abwertenden Begriffe benutzen, das könnte dem Ideal der Politischen Korrektheit zuwiderlaufen – unterstützt oder gefördert wie in Deutschland, als da wären: Frauen, die eigentlich Männer sind, Männer, die eigentlich Frauen sind, Menschen, die meinen, eine Nahrungsunverträglichkeit zu haben, Schichtarbeiter, Berufstätige, die unverschämterweise sonntags arbeiten müssen, Menschen, die einen nicht ganz so optimalen Hochschulabschluß erworben haben, alleinerziehende Mütter, die Heldinnen des säkularen Sozialstaates, Mieter, Erwerbslose, weniger Gescheite. Wer nicht zu einem förderungswürdigen Personenkreis gehört, muß irgend etwas falsch gemacht haben.

Dieser Krake Sozialstaat basiert auf Schulden, die wahrscheinlich die zahlen, die noch nicht geboren sind.

• In der Flüchtlingskrise 2015 nahm Deutschland etwa eine Million Immigranten aus fremden Kulturkreisen auf. Nicht nur in Medizin und Technik, auch im Fach Ethik war Deutschland erneut Weltspitze. Doch es gab nicht nur ethische Impulse. Hintergrund war auch, daß „häßliche Bilder“ vermieden werden sollten. Häßliche Bilder wären dann real gewesen. Gezeigt wurden die zeitgemäßen idealen Bilder von notleidenden Müttern und ihren Kindern. Realität war, daß zirka 92 Prozent der Einwanderer junge Männer waren. Auch fußte die Entscheidung von Kanzlerin Angela Merkel nicht unbedingt auf rein humanitären Grundlagen. Bekannt ist, daß ein Psychologenteam die Kanzlerin regelmäßig bezüglich der Stimmungslage in der Gesellschaft berät. Das hat schon etwas Besonderes. Eine kühle Naturwissenschaftlerin läßt sich von Experten für Emotionen beraten.

Denen sind Fakten nicht ideal genug, Emotionen und Empathie sind psychologisch geschickter. Gerade Empathie ist im kollektiven Bewußtsein im Steilflug und mit häßlichen Bildern nicht zu vereinbaren. Das ist die neue Realität.

• Am deutschen Energiewesen soll die Welt genesen. Auch wenn die Risiken der Kernenergie vor und nach Fuku­shima dieselben sind, Tsunamis hier in den letzten zehntausend Jahren noch nicht beschrieben worden sind und Erdbeben nicht wie in Japan zum Alltag gehören, wurde die Energiewende beschlossen und stoisch verteidigt. Übrigens als einziges Land weltweit. Doch manchmal sind Idealisten nur schlecht verkleidete Realisten. Wie ist es sonst zu erklären, daß Deutschland immer wieder mal Atomstrom von Nachbarländern bezieht?

• Der Weg zur besten aller Welten kostet Geld, viel Geld. Eine einzigartige steuerliche Gesetzgebung sorgt dafür, daß sich niemand benachteiligt fühlen soll. Ein Kotau vor dem Ideal. Doch bei dem ständigen Nachbessern und Vergleichen entstehen Steuergesetze, die am Ende niemand mehr versteht. Beispiel Mehrwertsteuer. Deren verschiedene Sätze waren ursprünglich dafür gedacht, Benachteiligte finanziell weniger zu belasten. Doch deren konkrete Umsetzung paßt oft gar nicht zu diesem Anspruch. So zahlen Behinderte für einen Rollstuhl sieben Prozent Mehrwertsteuer, für einen Treppenlift 19 Prozent. Als ob ein Gelähmter leichter über eine Wendeltreppe schwebt als über eine Straße.

Sondennahrung für Schwerkranke wurde früher steuerbegünstigt. Da der Fiskus nun meint, daß diese theoretisch trinkbar ist, gelten nun seit einigen Jahren 19 statt sieben Prozent Mehrwertsteuer. In der Realität kommt sie Patienten zugute, die oft nicht mehr schlucken können.

Damit von dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent vor allem Haushalte mit niedrigem Einkommen profitieren, gilt er vor allem für Lebensmittel. Dementsprechend sollte ein Luxusprodukt wie Trüffel nicht bei sieben, sondern bei 19 Prozent liegen. Solange die Trüffel aber nicht in Essig konserviert ist, gelten nicht 19, sondern sieben Prozent. So werden deutsche Steuergesetze zu Totenmessen für Vereinfachungen. Auch oder gerade beim Ideal der Gerechtigkeit kann man sich mächtig verheben.

• In kaum einem anderen Land gibt es so viele Feier-, Fest- und Urlaubstage wie bei uns. Gleichzeitig ist Deutschland führend in der Diagnosestellung von Burnout. Vielleicht hat die Schriftstellerin Juli Zeh recht, wenn es in ihrem Roman „Leere Herzen“ heißt: „In einer Welt, in der sich die, denen es am besten geht, am beschissensten fühlen, ist etwas grundverkehrt.“ Vielleicht ist das Idealbild vom gänzlich traumabefreiten, glücklichen und ausgeglichenen sowie in sich ruhenden Menschen nicht so ganz richtig.

Auch die Sprache der Deutschen, insbesondere die Schreibart mit der Großschreibung in Substantiven, die es so nur in Deutschland gibt, kann durchaus auf den Hang der Deutschen zur Genauigkeit, zum präzisen Erfassen des Wesentlichen, hindeuten.

Deutschland im Wolkenkuckucksheim erträumt sich die Welt, wie sie sein sollte und bemerkt gar nicht, wie sie tatsächlich ist. Kann dies ein völkerpsychologisches Merkmal sein? Doch darf man in Zeiten wie diesen überhaupt einen Begriff wie „völkerpsychologisches Merkmal“ benutzen? Auch wenn die durchgegenderte Integrationsbeauftragte nach Luft schnappt: ja, darf man, ganz klar. So zeigten Zwillings- und Adoptionsstudien in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer deutlicher, daß psychologische Eigenschaften in hohem Maße vom genetischen Erbe bestimmt sind. So wiesen chinesische Babys in Asien dasselbe Verhalten wie Babys chinesischer Abstammung in Amerika auf. Im Vergleich zu europäischen Babys waren sie nach der Geburt deutlich passiver und weniger leicht erregbar, also korrelierend mit einer Zivilisation mit hochdifferenzierten Verhaltensnormen, in denen Impulsivität und Reizbarkeit eher tabuisiert sind.

Doch nicht nur in Zwillings- und Adoptionsstudien lassen sich deutliche Hinweise für völkerpsychologische Hinweise finden. Ein weiteres Indiz hierfür ist der Neurotizismus-Index. Unter Neurotizismus versteht man eine genetisch bedingte Verminderung der psychischen Belastbarkeit, die bei den entsprechenden Individuen bei hohen Anforderungen zu neurotischen Symptomen führt, zum Beispiel Ängsten, Depressionen, hypochondrischen Befürchtungen, hysterischen Verhaltensweisen etc. In den Neurotizismus-Index fließen übrigens auch Daten über Suizide und Suchterkrankungen ein. Neben Japan, Italien und Österreich liegt auch Deutschland beim Neurotizismus-Index regelmäßig ziemlich weit vorn. Es sind zugleich auch die Länder, die den Zweiten Weltkrieg verloren haben und nach ihren Aggressionen auch selbst entsetzlich aggressive Kriegshandlungen einstecken mußten, wie beispielsweise das Flächenbombardement auf deutsche Städte.

Auch die Sprache als eine Funktion des Denkens spiegelt die Charakteristika der deutschen Seele gut wider. Mindestens seit der Reformation sprechen die Franzosen von der „Lourds Allemands“, der deutschen Schwere. Von „German Angst“, der möglichen Nachwirkung aus dem Dreißigjährigen Krieg, der zum großen Teil auf deutschem Territorium ausgetragen wurde, oder „Le Waldsterben“ ganz zu schweigen. Aber auch die Sprache der Deutschen, insbesondere die Schreibart mit der Großschreibung in Substantiven, die es so nur in Deutschland gibt, kann durchaus auf den Hang der Deutschen zur Genauigkeit, zum präzisen Erfassen des Wesentlichen, hindeuten. Bis zum Faustischen ist es dann nicht mehr allzu weit.

Vieles wörtlich nehmen, sich einem Ideal unterordnen, das Ganze verbunden mit einer gewissen inneren Unruhe und dem Bedürfnis, etwas Großes zu bewirken. Offensichtlich sind wir Deutschen so.

Die Überhöhung des Ideals und die damit einhergehende Realitätsverweigerung haben in der deutschen Geistesgeschichte eine lange Tradition, angefangen in der Romantik, der Gegenbewegung zur Aufklärung, der Abwendung von den Naturwissenschaften. Wie heißt es so treffend bei Heinrich Heine (1797–1856): „Franzosen und Russen gehört das Land, das Meer gehört den Briten, wir aber besitzen im Luftreich des Traumes die Herrschaft unbestritten.“






Dr. Burkhard Voß, Jahrgang 1963, ist seit 2005 niedergelassener Arzt für Neurologie, Psy­chia­trie und Psychotherapie in Krefeld. Nach Medizinstudium und Facharztausbildung in Münster leitete er von 2001 bis 2004 den sozial­psychiatrischen Dienst der Stadt Krefeld. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Massen­psychologie und die These vom Klimawandel durch Kohlendioxid („Mythos der Herde“, JF 46/16).

Foto: „Jetzt Klima wählen!“ – Robert Habeck, Annalena Baerbock und Katharina Fegebank (alle Bündnis 90/Die Grünen) in vorderster Front bei der Fridays for Future-Demonstration in Hamburg, Februar 2020: Prinzipienverliebt, gründlich, grundsätzlich, faustisch. Total deutsch eben