© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/20 / 17. Juli 2020

Von Frieden konnte keine Rede sein
Vor 75 Jahren fand die Potsdamer Konferenz der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs statt
Stefan Scheil

Das zwanzigste Jahrhundert hatte bekanntlich die Kunst verlernt, Frieden zu schließen. Gründe dafür gab es reichlich. Friedensschlüsse setzen einen gegenseitigen Respekt voraus, die Bindung an geltende Völkerrechtsvorstellungen, und natürlich den gemeinsamen Willen, nicht sofort wieder übereinander herzufallen. Schwierig herzustellende Bedingungen waren dies in einer Ära, in der Totalitarismus, ausgehender Imperialismus und demokratische Weltherrschaftsansprüche aufeinandertrafen. Auch in Potsdam kamen vor fünfundsiebzig Jahren drei Parteien zusammen, denen es an diesen Voraussetzungen fehlte.

Man nannte sie die großen Drei, die jeweils entscheidenden Staatsmänner Großbritanniens, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Winston Churchill, Harry Truman und Josef Stalin kamen in dieser Konstellation zum erstenmal zusammen, um darüber zu befinden, wie es in Europa weitergehen sollte. Formal wurde seit dem 8./9. Mai 1945 nicht mehr geschossen, von Frieden konnte allerdings keine Rede sein.

„Operation Unthinkable“, so bezeichnete man in Großbritannien deshalb die laufenden Pläne des Premierministers Churchill für einen Angriff auf die sowjetischen Truppen in Mitteleuropa. Britische und amerikanische Truppen sollten mit polnischen und neu aufzustellenden deutschen Unterstützungsdivisionen einen Schlag führen, der die UdSSR wieder aus dem Zentrum Europas und Polen verdrängte. Was als „undenkbar“ bezeichnet wurde, stellte den Gegenstand hoch geheimer und intensiver Planungen dar. Gerüchte machten in deutschen Gefangenenlagern die Runde, es könnte so also doch noch einmal anders kommen.

Ob Stalin in Potsdam selbst schon solche Informationen vorliegen hatte, ist nicht bekannt. Jedenfalls wies er Glückwünsche zum „Sieg“ in Berlin mit der abwehrenden Bemerkung zurück, Zar Alexander sei damals bis Paris gekommen. In der Tat hatten die sowjetischen Angriffsvorbereitungen im Jahr 1941 darauf gezielt, das deutsche Hindernis auf dem Weg dorthin zu beseitigen. Als sich im Frühjahr 1945 endgültig abzeichnete, wie begrenzt der jetzige Erfolg vor dem Hintergrund der ursprünglichen Pläne ausfallen würde, kündigte Stalin vor seinen Mitstreitern denn auch an, es in zehn Jahren „noch einmal probieren“ zu wollen. Schlechte Aussichten für die Bevölkerung der UdSSR, die auch weiterhin als Arbeitspersonal eines kriegerischen Totalstaats verplant wurde.

Verhandlungsgrundlage war Deutschland von 1937

Von Frieden konnte in Potsdam auch aus anderen Gründen kaum gesprochen werden. Man hatte einen Vernichtungskrieg gegen das Deutsche Reich geführt und gewonnen. Was man nun mit den Besiegten machen wollte, spottete völkerrechtlich nicht nur sozusagen jeder Beschreibung. Es hatte auch keiner der Anwesenden qua Amt die verfassungsrechtliche Kompetenz, fremde Länder zu zerlegen und Bevölkerungsstrukturen auszulöschen. 

Trotz der täglichen Zusammenkünfte im Potsdamer Schloß Cecilienhof, die während der gut zwei Wochen zwischen dem 17. Juli und dem 2. August meist mit abendlichen Banketten mit freundlichen Trinksprüchen auf die anderen Alliierten in den jeweiligen Quartieren der Delegationen beschlossen wurden, war die Stimmung von Rivalität und Eifersüchteleien bestimmt, ständig wurde selbst in Protokollfragen darum gerungen, den jeweiligen Status herauszustellen. Stalin glaubte sich in der besten Position, war er doch einer der Hauptsieger des Krieges, der zudem bei den vorherigen Konferenzen in Teheran und Jalta wesentlich die Nachkriegsordnung in Deutschland bestimmen konnte. Churchill, für den das ebenfalls galt, reiste jedoch als lame duck an, da er kurz zuvor überraschend die Unterhauswahlen gegen die Labour Party verloren hatte und nach einer Woche durch seinen Kontrahenten, den neuen Premier Clement Attlee, ersetzt wurde. Der erst seit April 1945 amtierende US-Präsident Truman war in diesem Gespann der Unerfahrenste, hatte aber seit dem 16. Juli mit dem erfolgreichen Test der ersten Atombombe die Gewißheit, militärisch unangefochten die stärkste Macht der Welt zu repräsentieren. 

Die Runde hatte deshalb Schwierigkeiten, sich überhaupt auf den Verhandlungsgegenstand zu einigen. Nachdem ein paarmal von Deutschland die Rede gewesen war, wollte Churchill wissen, wie das Wort „Deutschland“ eigentlich definiert werde. Wenn damit Vorkriegsdeutschland gemeint sei, würde er zustimmen. US-Präsident Truman schlug vor, das Deutschland von 1937 ins Auge zu fassen. Worauf Stalin alles abgezogen wissen wollte, „was Deutschland 1945 verloren hat“. Nach weiteren Diskussionen über die mögliche Zugehörigkeit des Sudetenlandes einigte man sich schließlich auf ein „Deutschland in den Grenzen von 1937“. Auf einen Staatsnamen für dieses Gebilde verzichtete man und fand für die Beschneidung seines Territoriums die sicherheitshalber alles offen lassende Fiktion einer polnisch-sowjetrussischen „Verwaltung“ seiner Gebiete östlich von Oder und Neiße. Auch wenn die faktische Abtretung der deutschen Ostprovinzen bereits in Jalta beschlossene Sache war, versuchte man die Kriegsrhetorik zu umgehen und die bereits angelaufene brutale Vertreibung der Deutschen mit der Floskel „vom geordneten und humanen Transfer“ zu verbrämen.  

Ausblick auf eine künftige Friedenskonferenz

Die vom US-amerikanischen Präsidenten Truman vorgeschlagene Sprachregelung schlug sich also im Abschlußdokument der Konferenz von Potsdam nieder. Letzteres sollte es zwar nie zu völkerrechtlicher Verbindlichkeit bringen, doch die Konferenz sprach vieles direkt oder indirekt an. Sie befaßte sich daher noch mit dem Deutschen Reich als Ganzes, ohne es jemals zu nennen. Sie traf zwar keine völkerrechtlich verbindlichen, wohl aber auf politisch-gesellschaftlicher Ebene äußerst radikale Maßnahmen zu dessen Auflösung. In keiner der Erklärungen der Sieger bei oder nach der Kapitulation von 1945 war allerdings vom Ende des Deutschen Reiches die Rede. Das konnte auch kaum anders sein, verfolgte die Potsdamer Konferenz doch noch den Gedanken einer nachfolgenden Friedenskonferenz mit dem Abschluß eines Friedensvertrags, so daß aus naheliegenden, eigentlich zwingenden Gründen das Völkerrechtssubjekt, gegen das Krieg geführt worden war und mit dem nun Frieden geschlossen werden sollte, zu dieser Zeit und zu jedem Zeitpunkt dazwischen noch existieren mußte. Das ist im Prinzip bis heute so geblieben, auch wenn sich fünfundsiebzig Jahre nach Potsdam ein Status quo herausgebildet hat, an dem auch ohne gültigen Friedensvertrag niemand wirklich rütteln will. Die verlorene Kunst, Frieden zu schließen, hat immerhin trotzdem wenigstens einen Zustand hinterlassen, in dem nicht alle zeitnah übereinander herfallen wollen.