© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/20 / 31. Juli 2020

Ländersache: Sachsen-Anhalt
Schreiben und Lesen ist nie mein’ Sach’ gewesen
Paul Leonhard

Wenn für Sachsen-Anhalts Schüler am 27. August der erste Schultag nach den Sommerferien beginnt, werden sie sich beim Anblick des Stundenplans verwundert die Augen reiben: Wo sind die Deutsch- und Mathestunden hin? Während die Politik immer neue Themen als für den Unterricht verpflichtend erklärt – etwa Rassismus –, wird bei den Grundlagen ausgedünnt. In Klasse neun und zehn soll es je eine Wochenstunde weniger Mathe und Deutsch geben, in den sechsten bis achten Klassen je zwei Stunden weniger Englisch. 

So sehen es die Änderungspläne vor, die Bildungsminister Marco Tullner (CDU) jüngst im Magdeburger Landtag vorgestellt hatte. „Wir müssen uns diesen Realitäten stellen“, sagte er zur Begründung. Denn in Sachsen-Anhalt ist es nicht gelungen, ausreichend junge Menschen für den Lehrerberuf zu begeistern, nicht einmal, wie in anderen Bundesländern üblich, Quereinsteiger zu finden. Glaubt man Tullner, sind auch die Bildungsanforderungen der Wirtschaft an die Schulabgänger gesunken. Der Minister ist überzeugt, auch mit weniger Unterricht in Deutsch, Mathe und Englisch – die Maßnahme sei „notwendig und verantwortbar“ – den Bildungserfolg so zu sichern, daß „die Anforderungen der Unternehmen an Qualität und Inhalte des Unterrichts erfüllt werden können“.

Die Sekundarschule drohe zur Restschule zu verkommen, die Gemeinschaftsschule könne nicht mehr den Weg zum Abitur ebnen, warnt dagegen der Landesvorsitzende des Koalitionspartners SPD, Andreas Schmidt: „Damit wird ein wichtiger bildungspolitischer Fortschritt Sachsen-Anhalts aus der letzten Wahlperiode torpediert.“ Bereits seit 2016 sei das Arbeitsvermögen der Schüler in Sekundar- und Gemeinschaftschulen um etwa 15 Prozent gesunken. Schmidt rechnet vor, daß die Pläne des Ministeriums rund 30 Wochenstunden weniger Unterricht bedeuten. Eine Kürzung, die dem Umfang eines kompletten Schuljahres entspreche. Das Bildungsangebot im Land sinke damit auf das deutschlandweit geltende Minimum. 

Nach dem Motto, wenn schon mangelhafte Bildung, dann aber für alle. Daher schlägt SPD-Fraktionsvorsitzende Katja Pähle vor, Gymnasiallehrer in den Sekundarschulen einzusetzen. Damit sich das Gefälle zwischen Gymnasien und anderen Schulformen nicht vergrößere, müsse es „einen fairen Einsatz von Lehrkräften in allen Schulformen geben“. Ein modernes Schulsystem müßte nicht nur für die Schüler durchlässig sein, sondern auch für Lehrer. 

Eva Gerth von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kritisiert, daß ihr Vorschlag zur Einrichtung von Arbeitszeitkonten nicht umgesetzt wurde. Die Kürzung der Unterrichtsstunden in den wichtigen Fächern sei eine „Bankrotterklärung“. Noch deutlicher wird Linken-Fraktionschef Thomas Lippmann: „Wenn Wahlpflichtkurse und damit faktisch die zweite Fremdsprache wegfallen, Musik oder Kunst ab der siebenten Klasse abgewählt werden können und sich selbst in den Naturwissenschaften und den Profilfächern Wissenschaft und Technik der Unterricht im Umfang von durchschnittlich fünf Wochenstunden“ nur noch nach den Möglichkeiten der einzelnen Schulen richte, kein verläßlicher Anspruch mehr auf ein Mindestangebot bestehe, dann sei das „keine Allgemeinbildung“ mehr.