© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/20 / 31. Juli 2020

„Beendet die Quarantäne, beginnt mit dem Krieg“
Armenien/Aserbaidschan: Internationale Angst vor einem neuen ausgewachsenen Krieg zwischen den beiden Kontrahenten
Marc Zoellner

Scheinbar spontan trafen die Proteste die anwesenden Sicherheitskräfte: Mit Corona-Masken vor dem Gesicht und eingehüllt in die Flaggen ihres Landes, hatten sich am 14. Juli weit über 30.000 aserbaidschanische Bürger vor dem Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Baku versammelt, um für einen Kriegseintritt Aserbaidschans gegen das benachbarte Armenien zu demonstrieren. 

Harter Stellungskrieg, bei dem keiner gewinnen kann

„Beendet die Quarantäne, beginnt mit dem Krieg!“ forderten die Demonstranten vor dem von Sicherheitskräften abgeriegelten Gebäude. Recht spontan hatte der „Marsch für Bergkarabach“, wie der Protestzug im Anschluß von aserbaidschanischen Medien benannt wurde, in der gut 30 Kilometer von Baku entfernten Stadt Sumgait mit nur wenigen hundert Teilnehmern begonnen, sich bis zum Abend jedoch wie ein Lauffeuer auch auf Baku ausgebreitet. Erst beim Versuch der Demonstranten, das Parlament zu stürmen und Feuer im Gebäude zu legen, antwortete die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern.

Noch am selben Abend verurteilte der aserbaidschanische Machthaber Ilham Aliyev die ungewöhnliche Demonstration als „versuchten Staatsstreich“ und bezichtigte die Opposition der Destabilisierung seiner Regierung. Seine Vorwürfe sind freilich aus der Luft gegriffen – seit 2003 regiert Aliyev das erdölreiche Land am Kaspischen Meer quasi im Alleingang als Nachfolger seines Vaters Heydar Aliyev, welcher vom Zerfall der Sowjetunion an die Geschicke des Landes geleitet hatte. 

Vielmehr scheint, als habe Ilham Aliyev den Marsch auf Baku selbst inszeniert, um seinem politischen Säbelrasseln gesellschaftlichen Rückhalt zu sichern: Denn bereits zwei Tage zuvor hatten Einwohner mehrerer aserbaidschanischer Städte unter großen Sympathien der Berichterstattung staatlicher Medien während ihrer angeblich spontanen Massendemonstrationen für den Wiederanschluß Bergkarabachs an Aserbaidschan demonstriert. Die Handzeichen der Grauen Wölfe, einer nationalistischen protürkischen Gruppierung, hätten die Aufmärsche dominiert, berichteten Journalisten des Bakuer Blogs „Aze Voice“, inmitten von aserbaidschanischen wie türkischen Flaggen sowie dem Sprechchor: „Wir sind furchtlose Türken!“ Der Großteil der Aserbaidschaner ist turksprachig und bezeichnet sich selbst als „aserbaidschanische Türken“.

Auslöser der Proteste waren die seit dem 12. Juli anhaltenden militärischen Zusammenstöße aserbaidschanischer Soldaten mit armenischen Militäreinheiten an der Grenze zur armenischen Provinz Tawusch. Seit ihrer Unabhängigkeit kämpfen beide Länder um die Vorherrschaft speziell des Gebiets um Bergkarabach, um dessen Besitz sich von 1992 bis 1994 schon einmal ein Krieg entsponnen hatte, der über 50.000 Menschen das Leben kostete.

 Seitdem besetzt Armenien das mehrheitlich von Armeniern bewohnte, von Aserbaidschan indessen beanspruchte Gebiet, welches sich wiederum beiden Parteien gegenüber, international jedoch nicht anerkannt, für selbständig erklärte. 

Am 12. Juli, behauptet Baku, habe Armenien mit Mörserbeschuß auf Dörfer jenseits der Grenze begonnen, um weitere Gebiete zu annektieren. Eriwan hingegen erklärt, aserbaidschanische Truppen hätten strategisch wichtige Hügel auf armenischem Boden besetzt. Dutzende Soldaten des Feindes seien seitdem liquidiert worden, behauptet die jeweilige Gegenseite. Tatsächlich, berichten unabhängige Beobachter, hätten sich die Kampfhandlungen in einem Stellungskrieg zu beiderlei Nachteil festgefahren.

Vor einem neuen, voll ausgewachsenen Krieg warnt die internationale Staatengemeinschaft und reagiert dabei höchst unterschiedlich: Einstimmig verurteilte das französische Parlament Baku als Aggressor in diesem Konflikt und erfährt dabei das Wohlwollen des türkischen Rivalen Griechenland. In der islamischen Welt wiederum sammeln sich die Sympathisanten Bakus. Sowohl die Regierungen Pakistans als auch Malaysias erklärten Eriwan für schuldig am jüngsten Konflikt. Einen Schritt weiter ging die Türkei. „Armenien wird unter seiner eigenen Verschwörung ertränkt werden und für all seine Taten bezahlen“, drohte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar und erklärte die volle Unterstützung der „azarischen Brüder“ durch die Türkei. Der Iran wiederum, welcher selbst rund 15 Millionen Aserbaidschaner beheimatet, erklärte sich als Vermittler zwischen beiden Staaten bereit – auch aus Eigeninteresse heraus, um seine Hegemonie im Kaukasus auszubauen.

Brutale Schlägereien in Moskau und Los Angeles

Nach 16 Jahren Dienstzeit hatte Ilham Aliyev seinen Außenminister Elmar Mammadyarov Ende Juli telefonisch des Amtes enthoben und durch denb jüngeren, diplomatisch unerfahrenen Jeyhun Bayramov ersetzt. In diesem Schritt wie auch in den vorhergehenden, angeblich spontanen Bürgerprotesten sehen Analysten deutliche Anzeichen, daß Aliyev neuen Druck auf die OSZE ausüben will, um die stockenden Verhandlungsrunden über den Besitz Bergkarabachs zu Bakus Gunsten wiederaufzunehmen.

 Tatsächlich hieße dies auch, daß nicht Eriwan, sondern Baku Mitte Juli zuerst die Landesgrenze militärisch überschritten hätte. Um die Deutungshoheit der Kriegsschuldfrage kämpfen mittlerweile auch die weltweit verstreuten Diasporagemeinden beider Völker: In Deutschland verübten Unbekannte mehrere Anschläge auf das Botschaftsgebäude Armeniens in Berlin sowie auf mehrere armenische Geschäfte in Köln. In den USA wiederum griff eine zehnfache Überzahl armenischer Migranten eine rund 50 Menschen zählende proaserbaidschanische Demonstration in Los Angeles gewaltsam an. Und aus Rußland wurde zuletzt die Verhaftung einer vier Dutzend Mann zählenden Gruppe Aserbaidschaner vermeldet, die armenische Bürger in Moskau terrorisiert hatte.