© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/20 / 31. Juli 2020

Vorwärts, wir müssen zurück!
Wer ist rechts? Reaktionäre wenden sich gegen indiskutable Verhältnisse / Teil V der JF-Serie
Karlheinz Weißmann

Wenn der Schweizer Gonzague de Reynold – eigentlich Frédéric Gonzague Graf Reynold de Cressier – eine Berufsbezeichnung angeben mußte, schrieb er „Grundbesitzer“. Das entsprach seinem Selbstverständnis, dem, was er Herkunft und Gesinnung schuldig war. Gonzague de Reynold entstammte dem europäischen Hochadel. Seine Familie gehörte zum Patriziat der alten Stadt Fribourg und war im „Service de France“ – dem Militärdienst der Schweizer für die Könige Frankreichs – aufgestiegen. Einer seiner Vorfahren hatte zu den Gardisten gehört, die die Tuilerien gegen den Ansturm des revolutionären Mobs zu verteidigen suchten. Was Gonzague de Reynold mit Stolz erfüllte. Denn er verachtete die Ideen von 1789, dazu die moderne Massengesellschaft und den Zwang, sich wie jeder Gemeine durch Arbeit nützlich zu machen. Seine Sympathie galt dem Regime Salazars in Portugal (die Begeisterung für Mussolini war Episode), und „die Wiedereinsetzung der Autorität“ betrachtete er als wichtigste Aufgabe der Gegenwart.

Trotzdem hat Gonzague de Reynold in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erheblichen Einfluß auf das öffentliche Leben der Schweiz genommen: als homme de lettre, als Gelehrter, als Autor, als Repräsentant seines Landes wie als politischer Berater. Der Irritation über sein Programm hielt zuerst die Bewunderung für seine Fähigkeiten, zuletzt der Respekt vor seinem Einsatz für die „Geistige Landesverteidigung“ die Waage. Er war klug genug, seine Feindschaft gegenüber dem Liberalismus wenigstens so weit zu zügeln, daß er sich noch am Rand des helvetischen Konsensus bewegte und sein „aristo-demokratisches“ Verfassungsideal wenn nicht als akzeptabel, dann doch als diskutabel galt.

Der Begriff wurde  zum Schimpfwort

Eine Ursache dafür war der politische Sonderweg der Eidgenossenschaft, eine andere die Tatsache, daß die gesellschaftliche Entwicklung in manchen Teilen Europas lange die Vorstellung wachhielt, es könne ein großes Zurück geben. Gonzague de Reynold teilte diese Hoffnung und war insofern, was man einen „Reaktionär“ nannte. Das Wort „Reaktion“ bedeutet nichts anderes als „Gegenbewegung“, und trat schon deshalb erst mit einer gewissen Verspätung auf den Plan, das heißt nachdem klar geworden war, was „Aktion“ bedeutete. Aktion bedeutete zuerst Revolution und dann Fortschritt, Reaktion mithin Konterrevolution und Wendung zu den alten Verhältnissen.

Das heißt, Reaktion hing eng mit der Idee der „Restauration“ – also Wiederherstellung – zusammen, die nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft zum Leitmotiv der politischen Neuordnung wurde. Aber schon 1827 schrieb Friedrich von Gentz, einer der klügsten Befürworter der Restauration: „Die Weltgeschichte ist ein ewiger Übergang vom Alten zum Neuen. Im steten Kreislauf der Dinge zerstört alles sich selbst, und die Frucht, die zur Reife gediehen ist, löset sich von der Pflanze ab, die sie hervorgebracht hat. Soll aber dieser Kreislauf nicht zum schnellen Untergange alles Bestehenden, mithin auch alles Rechten und Guten, führen, so muß es notwendig neben der großen, zuletzt immer überwiegenden Anzahl derer, welche für das Neue arbeiten, auch eine kleinere geben, die mit Maß und Ziel das Alte zu behaupten und den Strom der Zeit, wenn sie ihn auch nicht aufhalten kann noch will, in einem geregelten Bette zu erhalten sucht.“

Das klang resigniert, und tatsächlich war Gentz überzeugt, daß das „Weltenrad“ weder durch Gewalt noch durch Überredung blockiert und dann der Rückwärtsgang eingelegt werden könne. Eine Reaktion im genauen Sinn, die tatsächlich das Ancien régime, die Welt vor 1789, zurückgebracht hätte, schloß er aus. Was schon erklärt, warum „reaktionär“ niemals geeignet war, eine politische Tendenz im genauen Sinn zu bezeichnen und warum der Begriff selbst rasch zum Schimpfwort wurde, das die „Bewegungspartei“ gegen jeden Mißliebigen führte. Das galt nicht nur für Linke und Liberale. Auch die nationalen Sozialisten marschierten gegen die „Reaktion“, und die Erhebung des 20. Juli war in Hitlers Perspektive nichts anderes als der Versuch von „Reaktionären“, die Errungenschaften seiner Revolution rückgängig zu machen.

Trotzdem gab es auch nach 1945 Menschen, die sich selbst als Reaktionäre bezeichneten oder mindestens akzeptierten, wenn man sie so nannte. Für sie galt in der Regel eine merkwürdige Feststellung Eugen Kogons. Die traf er unmittelbar nach dem deutschen Zusammenbruch, der gemeinhin als Niederlage der Gesamtrechten verstanden wurde. Es wollten deshalb, schrieb Kogon, „… nur wenige sehr gern und sehr eindeutig als Leute der Rechten gelten. Nur die ganz vornehmen Denker, die grundsätzlich jeweils anders denken als die Mehrheit, bekennen sich zur Rechten“. Er meinte damit nicht die Durchschnittskonservativen oder Kirchlichen, die es in der Nachkriegszeit noch in erklecklicher Stärke gab, sondern jene kleine Schar von Intellektuellen, die sich dem Zeitgeist überlegen sah und entweder jedes Etikett mit Schulterzucken quittierte oder gar nichts dagegen einzuwenden hatte, „rechts“ oder eben „reaktionär“ geheißen zu werden. Julius Evola gehörte natürlich dazu, aber auch Henry de Montherlant, Emile Cioran, T. S. Eliot und vor allem Ernst Jünger.

Vor allem Jünger, weil er – der Aktivist der zwanziger Jahre – sich nun mit dem „Anarchen“ identifizierte, der in einer Welt, die unbedingt Parteinahme forderte, gerade solche Parteinahme ablehnte. Im Anarchen charakterisierte Jünger sich als den, der „nicht Teilnahmsloser, sondern Teilnahmsfreier“ ist und dessen besondere Freiheit darauf beruht, daß er „jederzeit aussteigen“ kann: „nicht nur aus dem Zuge, sondern aus jedem Anspruch, den Staat, Gesellschaft, Kirche an ihn stellen“. Der Anarch hat einen Ahnherren in jenen „Anarchisten von rechts“, die mit den üblichen – also denen auf der Gegenseite des Spektrums – die Respektlosigkeit gegenüber den Machthabern eint. Sie trennt aber das Wissen der Anarchisten von rechts um die Ungleichheit der Menschen und mehr noch das Wissen darum, daß Freiheit kein natürliches Recht, sondern ein Privileg ist, das man gegen die Zudringlichkeit der vielen verteidigen muß.

Reaktioäre bildeten kein Lager und blieben vereinzelt

Wenn man Vertreter dieser seltenen Spezies nennen will, kommt man selbstverständlich auf Nietzsche und die Nietzscheaner und alle, die des „Ästhetizismus“ verdächtig sind, die „exaltierten Geister“ (Emile Cioran), Schriftsteller von Brantôme bis zu Baudelaire, von Léon Bloy bis zu Gilbert Keith Chesterton, nicht zu vergessen die politischen Dandys, Maurice Barrès etwa, ganz sicher Gabriele d’Annunzio, Curzio Malaparte oder Yukio Mishima oder Nicolás Gómez Dávila oder – um die jüngsten Vertreter dieser Linie zu nennen – Botho Strauß, Michel Houellebecq und Martin Mosebach. Das Übergewicht der Franzosen ist kein Zufall. Denn in Frankreich gibt es den Typus des rechten Literaten in höherer Dichte, Männer von elitärem und pessimistischem Temperament, das sie zurückweisen läßt, was als moderne Errungenschaft gilt.

Zweifellos darf man auch den unlängst verstorbenen Jean Raspail diesem Lager zurechnen. Soweit von einem Lager die Rede sein kann. Denn es handelt sich um lauter Einzelgänger, die abgesehen von ihrer Lässigkeit – Jünger hätte, wieder französisch, von désinvolture gesprochen – und ihrem Widerwillen gegen das Hier und Heute wenig verbindet. Auch keine Ideologie. Wenn Raspail also aus Anlaß des 200. Jahrestages der Ermordung Ludwigs XVI. am 21. Januar 1993 eine Gedenkveranstaltung im Zentrum von Paris organisierte, an der immerhin sechzigtausend Menschen teilnahmen, dann war das im Grunde eine Grenzüberschreitung. Er wollte seine Initiative denn auch nur als symbolische Geste verstanden wissen, nicht als Aufruf zur Konterrevolution, wohlwissend, daß es keine Streitkräfte für eine neue Vendée gibt.

Raspail ging es darum, ein Zeichen zu setzen für das, was er als richtig erkannt hatte. Womit kein prinzipieller Unterschied zu seinen Büchern bestand, die demselben Zweck dienten. Jedenfalls keinem politischen im genauen Sinn. Obwohl der reaktionäre Gehalt von Raspails Wertekanon – Royalismus, Treue gegenüber Kirche und Vaterland, Tradition – unbestreitbar ist. Nur sah er keinen Sinn darin, für etwas Propaganda zu machen, was sich von selbst verstehen muß oder erledigt ist. Er gehörte deshalb keiner legitimistischen Gruppe an, und die aktuellen Vertreter des Hauses Bourbon waren ihm peinlich, da es ihnen erkennbar an Noblesse und Willenskraft fehlte.

Trotz gehört wie die Verteidigung verlorener Sachen zur Mentalität der Rechten, und Nostalgie ist eine notwendige Beimischung reaktionärer Haltung. Das erklärt allerdings auch ihren unpraktischen Grundzug. Es bleibt dem Reaktionär deshalb heute nur eine begrenzte Zahl von Möglichkeiten. Im schlechteren Fall der Snobismus und die Neigung, sich im Grandhotel Abgrund eine Suite zu nehmen, im besseren Fall die scharfsichtige Kritik der Verhältnisse. Julien Freund hat schon als Wesen des Reaktionärs die Weigerung bezeichnet, „persönliche Meinung und objektive Analyse zu vermischen“. John Lukacs sprach davon, daß er zum Reaktionär geworden sei, weil er auf indiskutable Verhältnisse „reagierte“, und Erik von Kuehnelt-Leddihn sah die Aufgabe des Reaktionärs darin, wenigstens die Hoffnung wachzuhalten, „die Hoffnung, daß irgendwelche unserer Nachfahren irgend­einmal wieder in Freiheit und Würde werden leben dürfen“.

Die nächste Folge der Serie „Wer ist rechts?“ erscheint in der JF-Ausgabe 34/20 am 14. August.