© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/20 / 31. Juli 2020

Wo sind jetzt die Sachsen?
Das Dresdner Bundeswehrmuseum beschäftigt sich mit der Reichseinigung und vergißt den Blick aufs Eigene
Paul Leonhard

Der Junge ist lebhaft interessiert: „Ist es wirklich, daß die Preußen in Sachsen sind? Wo sind jetzt die Sachsen? Wie viele Brigaden hat jetzt der Benedek unter sich? Und der Onkel Albrecht, wie viele hat der?“ So heißt es einem Brief des achtjährigen Thronfolgers Rudolf an den österreichischen Kaiser Franz Joseph I. vom 17. Juni 1866. Und die letzte Frage an den „lieben Papa“ lautet: „Wann wird denn der Krieg losgehen?” 

Als Rudolf diese Zeilen schreibt, sind gerade preußische Truppen in Hannover, Kurhessen und Sachsen einmarschiert. Die drei Königreiche hatten sich geweigert, die von den Hohenzollern am Tag zuvor ultimativ geforderte Neutralität zuzusichern. Es begann jener bewaffnete Kampf um die Vorherrschaft, über den der preußische Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke später notierte: „Der Krieg von 1866 ist nicht aus Notwehr gegen die Bedrohung der eigenen Existenz entsprungen, auch nicht hervorgerufen durch die öffentliche Meinung und die Stimme des Volkes; es war ein im Kabinett als notwendig erkannter, längst beabsichtigter ruhig vorbereiteter Kampf, nicht um Ländererwerb, Gebietserweiterung oder materiellen Gewinn, sondern für ein ideales Gut – für Machtstellung.“

Seit 150 Jahren ein Thema im Schulunterricht

Der Deutsche Bruderkrieg, der als zweiter der drei Reichseinigungskriege in die Geschichtsbücher einging, birgt auch für heutige Historiker interessante Fragen: Hätte es ein Kaiserreich der Deutschen, eine deutsche Nation ohne die Österreicher, geben können, wenn die mit Italien verbündeten Preußen 1866 gegen die Habsburger und ihre Mitstreiter nicht gesiegt hätten? Was wäre passiert, wenn nach geltendem Recht Bundestruppen gegen Preußen marschiert wären, als dieses das von seinem österreichischen Verbündeten aus dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 – dem ersten Reichseinigungskrieg – verwaltete Holstein einfach besetzte? Oder wenn bei Königgrätz die ungarischen Korpskommandanten Festetics und Thun ihre Truppen nicht befehlswidrig aus den Stellungen abgezogen, in sinnlosen Angriffen verheizt und so eine verhängnisvolle Lücke in der Verteidigung hinterlassen hätten? Das Verhalten der beiden Fürsten war verhängnisvoller, als das Eintreffen der II. (schlesischen) preußischen Armee unter Kronprinz Friedrich Wilhelm oder das moderne Zündnadelgewehr, denn dadurch fehlten Feldzeugmeister Ludwig von Benedek die schlacht- und damit kriegsentscheidenden Reserven. War allein Preußens Fortune die Sturzgeburt eines kleindeutschen Reiches 1871 geschuldet oder hätte es auch ein großdeutsches Reich mit Österreich oder weiterhin einen losen Bund deutscher Staaten in der Mitte Europas geben können? 

In einer Sonderschau „Krieg Macht Nation. Wie das deutsche Kaiserreich entstand“ stellt sich das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden der Geschichte der Reichseinigung und der Geburt eines Reiches, das nicht einmal ein halbes Jahrhundert existierte und das in seinem Untergang fast alle deutschen Dynastien mitriß.

Die Reichseinigung ist seit 150 Jahren Thema im Schulunterricht: der Kampf gegen die französische Fremdherrschaft, die Restaurierung der Fürstentümer nach dem Wiener Kongreß 1814, die Verfolgung der nationalen Kräfte, die Niederschlagung der bürgerlichen Revolution 1848, die Ablehnung der ihm von den deutschen Bürgern angebotenen Kaiserkrone durch den preußischen König. Dann Bismarcks Politik der Provokationen: Österreich zum Kampf gegen Dänemark überredet, dann zwei Jahre später im Bündnis mit Italien die Habsburger und Wettiner besiegt, 1870 den Konflikt mit Frankreich eskalieren lassen (Emser Depesche). Sieg und die Proklamation des Kaiserreiches in Versailles. Frankreichs Truppen bleibt es überlassen, die Pariser Kommune niederzuschlagen, und die Sachsen finden sich tatsächlich einmal auf der Seite der Sieger wieder.

Hätten die Kuratoren die Möglichkeiten des „Was wäre wenn?“ durchgespielt – wenn beispielsweise 1848 eine Reichseinigung unter den Farben des liberalen Deutschlands, also dem Schwarzrotgold der Studenten, stattgefunden hätte, statt später eine von Preußen durchgesetzte unter Schwarzweißrot –, es hätte eine spannende Ausstellung sein können. Aber die neue Sonderschau hat nicht mehr die Klasse, mit der der 2017 geschaßte wissenschaftliche Leiter des Museums, Gorch Pieken, immer wieder überrascht hat.

Die aktuelle Ausstellung ist hausbacken gestaltet, die Schrifttafeln sind schwer lesbar, und um wenigstens ein paar Provokationen zu entdecken, muß man sehr genau hinschauen. Aufgefrischt wird Schulwissen, einige Heldengeschichten werden beerdigt – wie der von Theodor Fontane bedichtete Opfertod des tapferen Pioniers Carl Klinke beim Sturm auf die Düppeler Schanzen 1864.

„Viele hatten überhaupt keine Lust auf Preußen“

In gut ausgeleuchteten Vitrinen sind Uniformen, Gewehre, Helme, Säbel, Schiffsmodelle, Fotos und einige Schriftstücke zu bestaunen. An den Wänden hängen Monumentalgemälde. In einer Vitrine reihen sich patriotische Bierkrüge. Zwei Feldkanonen sind aufgestellt und sogar ein MG 42 hat sich in die Schau verirrt – um die Weiterentwicklung der mehrläufigen Mitrailleusen bis zu den Maschinenwaffen der Bundeswehr zu dokumentieren. Und der Rückzug der Dänen 1864 erhält durch eine Karikatur eine aktuelle Nuance, die ihren Abzug aus Afghanistan zeigt, nur daß sie hier einen Kampfpanzer hinter sich her ziehen und keine Vorderladerkanone.

Daß gerade in einer Ausstellung in Sachsen, das 1813 auf der Seite Napoleons und 1866 auf der Seite Österreichs gefochten hatte, nicht die Frage aufgegriffen wird, welche Auswirkungen die preußische Führung für das Selbstverständnis der damals unterlegenen Staaten hatte, ist schade. Wie konnten die Sachsen seinerzeit überzeugt werden, daß plötzlich nicht mehr die Preußen, sondern die Franzosen der Erbfeind sind? Und wie war das in Bayern, Hessen, Hannover, Baden, Württemberg? Es habe viele Bürger gegeben, „die überhaupt keine Lust auf die Preußen hatten sowie eine von ihnen dominierte Nation“, sagt Kurator Gerhard Bauer. Auch bei Königen und Fürsten hielt sich die Begeisterung über die von Bismarck durchgesetzte Einheit in Grenzen. Während die Medien das Volk jubeln ließen, fürchtete Ludwig II. von Bayern eine preußische Bevormundung. Und der designierte Kaiser hatte Angst, daß sein Preußen in Deutschland aufgehen könnte.

„Wehe dem Staatsmann, der sich nicht nach einem Grund zum Krieg umsieht, der auch nach dem Krieg noch stichhaltig ist“, hatte Otto von Bismarck 1852 – er war eben von Wilhelm I. zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt worden – notiert. Da machte er sich gerade daran, die „großen Fragen der Zeit“ durch „Eisen und Blut“ zu entscheiden. 

Dem schnellen Sieg über Frankreich und der Reichseinigung folgte ein rasanter wirtschaftlicher Aufschwung im Kaiserreich, ein Erstarken der Arbeiterbewegung und eine für deren Besänftigung gedachte Sozialgesetzgebung. Aber überdeckte das alles tatsächlich die Wunden, die der Bruderkrieg 1866 gerissen hatte? Trauten die Wettiner und Wittelsbacher den Hohenzollern? Wie verliefen fortan die Kontakte zu den gedemütigten Habsburgern, die wegen des preußischen Verrats Venetien verloren hatten und die Ungarn als gleichberechtigtes Staatsvolk anerkennen mußten? Hatte der sächsische Thronfolger über seiner Ernennung zum Feldmarschall durch die Hohenzollern tatsächlich vergessen, wieviel Territorium 1814 an Preußen verlorenging? 

Nach außen feierte man die sächsischen Siege bei Gravelotte und Saint Privat in Lothringen, wo die Armee des sächsischen Thronfolgers den von den Franzosen schon geschlagenen Preußen eine Niederlage ersparte. Detailliert berichtete ab 1883 in Dresden ein farbenprächtiges 360-Grad-Panoramabild von dieser Schlacht, für die Ausstellung wurde es in Schwarzweiß rekonstruiert. 

Um die Zukunft des von ihm geschaffenen Kaiserreiches sorgte sich auch Bismarck, zumal er ein Gegner der Integration von Elsaß und Lothringen gewesen war. Er schmiedete zur Absicherung ein komplexes Bündnissystem, und der alte Helmuth von Moltke (1800–1891), der Sieger von Königgrätz und deutscher Generalstabschef, warnte 1890 als Reichstagsabgeordneter der Konservativen Partei vor der Unbeherrschbarkeit künftiger Krisen. „Wir stehen unter dem Eindruck, daß eine ungeheuere Macht, die sich zum Guten oder zum Bösen entwickeln kann, einigermaßen plötzlich in unserer Mitte aufgetaucht ist, und wir bemühen uns mit interessierter Aufmerksamkeit darum, ihren Charakter und ihre Absichten auszumachen“, notiert die Londoner Times noch fünf Jahre nach der Gründung des Deutschen Kaiserreiches.

Der kleine Junge, der sich 1866 so detailliert über die Entwicklungen des Krieges informieren ließ und der seiner Mutter Kaiserin Elisabeth schrieb: „Es wird die armen Soldaten sehr freuen, daß Du in die Spitäler gehst. Hat sich der arme Soldat den Arm abschneiden lassen, dem Du so oft zugeredet hast? Sind viele Verwundete in Ofen?“, wurde kein Kaiser von Österreich, kein König von Ungarn. Er beging 1889 Selbstmord. An ihn erinnert noch die auf der Wiener Weltausstellung 1873 erstmals präsentierte Apfelsorte „Kronprinz Rudolf“. Seine Briefe sind in der Dresdner Ausstellung zu sehen, aber zu lesen sind sie nicht.

Die Ausstellung „Krieg Macht Nation – Wie das deutsche Kaiserreich entstand “ ist bis zum 31. Januar 2021 im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden, Olbrichtplatz 2, täglich außer mittwochs von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Telefon: 03 51 / 823 -2803

Der Katalog (Sandstein Verlag) mit etwa 600 meist farbigen Abbildungen kostet 48 Euro. www.mhmbw.de