© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/20 / 31. Juli 2020

Auch moderne Gesellschaften kennen Tabus
Ein Mittel der Machtpolitik
Lothar Fritze

Die moderne Welt hat Legitimationen unter Berufung auf Traditionen fragwürdig werden lassen. Es ist heute nicht mehr möglich, die Aspirationen von Propheten in heiligen Texten zu systematisieren sowie zu kanonisieren und auf Glauben und Gehorsam im Volk zu hoffen. Der das Denken in den demokratischen Staaten des Westens dominierende politische Liberalismus beruht auf der Überzeugung, daß sich in weltanschaulichen, moralischen und religiösen Grundfragen, einschließlich der Frage, was ein gutes Leben ausmacht, kein auf rationalen Gründen beruhender Konsens notwendigerweise herstellen läßt.

Man mag diese Überzeugung teilen oder auch nicht, festzuhalten bleibt: Es ist im Zeitalter von Aufklärung und Säkularisierung schwieriger geworden, Überzeugungen oder auch politische Positionen als unhinterfragbar gültig erscheinen zu lassen.

Dies scheint nun allerdings nicht zu bedeuten, daß eine geistige Hegemonie nicht mehr erreichbar ist. Zwei Gesichtspunkte sind hier zu bedenken.

Auch in liberalen und pluralistischen Gesellschaften sind unter der Voraussetzung einer weitgehenden kulturellen Homogenität bestimmte Tabus in Geltung. Einerseits hat der Abbau hergebrachter Tabus vor verschiedenen archaischen Tabus haltgemacht. Die Verbote des Inzests zum Beispiel, des Unterhalts sexueller Beziehungen zu Kindern oder der Leichenschändung bedürfen nach wie vor keiner Begründung. Der Abscheu vor diesen Verhaltensweisen ist eine kulturelle Invariante und noch immer wirksam. Es handelt sich bei dieser Art von Tabus um überlieferte Vorstellungen, die unhinterfragt und diskussionslos akzeptiert werden und gleichsam zum Ideenbestand eines Gemeinwesens gehören.

Andererseits entstehen auch in „aufgeklärten“ Gesellschaften neue Tabus. Eines dieser Tabus ist das absolute Folterverbot, das auch selbstverschuldete Rettungsbefragungen umfaßt. Obwohl es dem Rechtsstaat (wie im Fall des seinerzeitigen Frankfurter Polizeipräsidenten Wolfgang Daschner) untersagt, zugunsten des Opfers zu intervenieren und ihn statt dessen zwingt, in einer Auseinandersetzung zwischen Recht und Un-recht neutral zu bleiben, kommt seine argumentative Infragestellung mittler-weile einem sozialen Selbstmord gleich.

Wichtiger jedoch ist der zweite Gesichtspunkt. Auch wenn es schwieriger geworden ist, allgemeine Zustimmung zu politisch und sozial relevanten Posi-tionen zu gewinnen, ist es nach wie vor möglich, Werthaltungen und politisch-soziale Vorstellungen zu stigmatisieren – sie als von einem anständigen Menschen nicht lebbar oder nicht vertretbar erscheinen zu lassen. Josef Isensee spricht von „didaktischen Tabus“ („Tabu im freiheitlichen Staat. Jenseits und diesseits der Rationalität des Rechts“, Paderborn 2003). Eine sich aufgeklärt dünkende Elite, der selbstermächtigte ideologische Hegemon, entscheidet, worüber nicht gesprochen wird, welche Dinge, welche Probleme der Diskussion entzogen sind, und nötigt den Rest der Gesellschaft, diese Vorgaben zu beachten. Die Tabus der Gegenwart werden als kollektive Erkenntnisse lanciert – vorzugsweise als Lehren aus der Geschichte des Nationalsozialismus. Dabei werden nicht nur gut begründete Maximen, wie die, daß sich Gleiches nicht wiederholen dürfe, tabuisiert, sondern auch Maßnahmen zu ihrer Umsetzung. Auffassungen, die von Nationalsozialisten vertreten wurden, haben als falsch zu gelten, weil sie von Nationalsozialisten vertreten wurden. Probleme, denen sich die Nationalsozialisten widmeten, sind nicht mehr als Probleme zu identifizieren, weil sie von den Nationalsozialisten in verbrecherischer Weise behandelt wurden.

Wer die Inhalte didaktischer Tabus bestimmt und über ihre Verletzung befindet, kontrolliert das Denken und Sprechen; er entscheidet darüber, welche Probleme als solche angesprochen und welche Lösungen politisch diskutiert werden können.

Bevölkerungspolitische Fragen beispielsweise, die im Dritten Reich aufgegriffen und zu einem politischen Hauptthema gemacht wurden, können seit Jahrzehnten nicht mehr angemessen diskutiert werden.

Der bloße Hinweis auf die Tatsache, daß Frauen aus bildungsschwachen und ökonomisch weniger erfolgreichen Schichten vergleichsweise mehr Kinder bekommen als etwa „Akademikerfrauen“, gilt zumindest als unschicklich. Er könnte aber auch als eine Mißachtung des Grundsatzes gewertet werden, wo-nach jeder Mensch gleich viel wert ist. Allein dem Wunsch nach einer höhe-ren Fertilitätsrate bei deutschen oder gar deutschstämmigen Frauen Ausdruck zu geben, kann den Vorwurf des völkischen Nationalismus eintragen. Wer eine solche Präferenz äußerte, würdigte jedoch weder andere Menschen herab noch spräche er sich für deren Diskriminierung aus.

Wie man bevölkerungspolitisch korrekt denkt, hat uns der Gründer der französischen Grünen, Yves Cochet, von 2001 bis 2002 Umweltminister in Frankreich, mitgeteilt. Die reichen Länder, so ließ er sich in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin L’Obs am 4. Januar 2019 vernehmen, hätten als erste die Pflicht, demographisch zu schrumpfen, denn ihr Lebensstil verursache die größten Umweltverschmutzungen (zit. nach: eigentümlich frei, Nr. 192, 2019, S. 17). Zwar wird bislang der individuelle Wunsch nach eigenen Kindern noch nicht als „unmoralisch“ oder „faschistoid“ denunziert, nähme man aber das Cochetsche Schrumpfungsgebot ernst, geriete der Wunsch nach eigenen Kindern in den reichen Ländern zumindest unter Rechtfertigungsdruck (allerdings auch die Einwanderung aus ärmeren Herkunftsländern).

Und wer schon das umweltpolitische Argument nicht für überzeugend hielte, hätte sich wenigstens klarzumachen, daß die egoistische Erfüllung des persönlichen Kinderwunsches die Kapazität zur Versorgung notleidender Kinder anderer Kontinente reduziert. Wenn „wir unsere Geburten begrenzten“, so schließt denn auch Cochet in demselben Interview, „könnten wir die Migranten, die an unsere Tür klopfen, besser aufnehmen“. Die interpretatorische Ausgestaltung didaktischer Tabus ist offen, und deshalb kann im Kulturkampf der Gegenwart noch mit drastischen Wendungen gerechnet werden.

Wie andere Tabus, so umweht auch didaktische Tabus der Nimbus der Un-umstößlichkeit, und wie andere Ta­bus werden auch sie nicht erklärt. Vielmehr werden sie als sich vermeintlich von selbst verstehende Gewißheiten in die Welt gesetzt. Wie im Falle anderer Tabus auch, führt ihre Verletzung zur unmittelbaren Ausgrenzung des Verletzers. Tabus sichern die Integrität und Identität einer Lebensordnung. Wer die tabuisierten Regeln verletzt, gefährdet nicht nur den Fortbestand und das reibungslose Funktionieren einer Gemeinschaft; er versündigt sich gleichsam an ihren mythischen Fundamenten. Deshalb kann der Verletzer nur ausgestoßen werden. Er hat sich selbst zu einem Unberührbaren gemacht – von ihm geht Ansteckungsgefahr aus.

Die gesellschaftliche Etablierung didaktischer Tabus ist ein Mittel der Machtpolitik. Wer die Inhalte didaktischer Tabus bestimmt und über ihre Verletzung befindet, kontrolliert das Denken und Sprechen; er entscheidet darüber, welche Probleme überhaupt als solche angesprochen und welche Problemlösungen politisch diskutiert werden können. Er hat die Macht, Karrieren zu beenden und die soziale Existenz von Nonkonformisten zu vernichten. Ideologischer Hegemon ist, wer über Tabus entscheidet. Metapolitische Herrschaft bedeutet, über die Tabuisierungskompetenz zu verfügen.

Hat eine Behauptung den Rang eines didaktischen Tabus erlangt, muß sie nicht mehr „bewiesen“ – das heißt, für sie muß nicht seriös argumentiert werden. Didaktische Tabus haben den Status von Unhinterfragbarkeiten.

Die Behauptung etwa (deren Wahrheitsgehalt hier nicht zur Diskussion steht), der Frieden in Europa seit 1945 sei der Europäischen Gemeinschaft/Union zu verdanken, ist eine solche „Wahrheit“. Obwohl sich für die Erklärung der Tatsache des Friedens auch andere und möglicherweise ausschlaggebendere Faktoren anführen lassen, kommt dieser Behauptung in den verschiedensten Rechtfertigungsargumentationen für „mehr Europa“ eine fundamentale ideologische Bedeutung zu. Sie muß bei passender Gelegenheit nur ausgesprochen werden – um unwidersprochen zu bleiben. Niemand käme in einer Diskussion auf die Idee, diese „Wahrheit“ zu hinterfragen – und wer doch auf diese Idee verfiele und diesbezügliche Skepsis äußerte, hätte sich damit diskreditiert.

Die Forderung, politisch korrekt zu denken, berührt das Innerste des Menschen. Eine Praxis, die auf das Denken der einzelnen zugreift, ist nicht nur ein Bemühen um nicht-diskriminierende Benennungen im Interesse Dritter; es ist eine Form geistiger Manipulation.

Auch wenn diese „Wahrheit“ nach dem Brexit an Plausibilität verlieren könnte: Es wäre ein leichtes, eine eindrucksvolle Menge hochangesehener Historiker und Politologen aufzubieten, die die „Unkenntnis“ des Skeptikers und sein „Ignorantentum“ gleichsam – freilich ohne stringente Argumente vorle-gen zu müssen – amtlich bestätigten und ihn der Lächerlichkeit preisgäben.

Man mag ja die Behauptung, die Europäische Union habe den Frieden gesichert, für valide halten, dadurch aber, daß sie gegen Kritik immunisiert wird, kann sie als ein Rechtfertigungsinstrument mißbraucht werden, um – mit dieser prinzipiellen Frage gar nicht in Zusammenhang stehende – eigene Vorstellungen von „Europa“ um so besser durchsetzen zu können. Denn tatsächlich geht es weder um „mehr“ noch um „weniger“, sondern allein um das „richtige Europa“, darum also, daß die Kompetenzen auf transnationaler, nationaler und regionaler Ebene sachadäquat verteilt sind. Gerade diese (notwendige) Diskussion wird aber durch die Diffamierung von Kritikern als „Europagegner“ im Keim erstickt.

Eine „Wahrheit“ ähnlichen Kalibers (deren Zutreffen ebenfalls dahingestellt bleiben kann) ist die Behauptung, kein Land profitiere derart vom Euro wie Deutschland. Nun ist diese „Erkenntnis“ – unter anderem – angesichts der Tatsache, daß das durchschnittliche Pro-Kopf-Vermögen in vermeintlichen Krisenländern höher liegt als in Deutschland, zumindest zweifelhaft geworden. Auch sind Erklärungsversuche (man müsse Rentenansprüche berücksichtigen) nicht wirklich überzeugend. 

Tatsächlich aber profitiert Deutschland nicht „vom Euro“, sondern, wenn man ähnlich floskelhaft reden will, „im Euro“, und zwar – abgesehen von günstigen Wechselkurs­umstellungen – vor allem deshalb, weil es eine höhere Wettbewerbsfähigkeit durch eine Stagnation der Löhne und Gehälter zu Lasten des Binnenkonsums erkauft hat. Ob tatsächlich „Deutschland“ oder vielleicht nur bestimmte soziale Schichten „vom Euro“ profitiert haben, ist eine Frage, auf die die Antwort nicht auf der Hand liegt. Trotzdem bleibt die besagte „Wahrheit“ ein argumentativer Dauerbrenner. Es geht nicht darum, die Bevölkerung wirklich aufzuklären, sondern dem Publikum mit plausibel klingenden Behauptungen die „richtige“ Meinung (hier: die Vorzugswürdigkeit der EU beziehungsweise des Euro) beizubringen. Diese Art der tendenziösen Meinungsmache ist ein Grund dafür, daß über die Zustände in Europa nur noch in Phrasen geredet wird.

Die Existenz und Virulenz didaktischer Tabus zeigt Folgendes: Neben den Forderungen einer Politischen Korrektheit, die einen bestimmten Sprachgebrauch, eine vorgeschriebene Terminologie anmahnt und umgekehrt den Gebrauch bestimmter Worte moralisch inkriminiert, gibt es eine Politische Korrektheit, die sich auf das richtige Denken und Meinen bezieht und also „falsche“, das heißt unwillkommene Anschauungen geißelt. Während man ein und denselben Gedanken in verschiedenen Worten äußern kann und der Gebrauch oder Nichtgebrauch von Worten immer noch etwas dem Denken vergleichsweise Äußerliches ist, berührt die Forderung, politisch korrekt zu denken, das Innerste des Menschen. Sie greift auf jene „Instanz“ zu, die einen Menschen als ein vernunftbegabtes Wesen ausweist.

Eine Praxis der Political Correctness, die auf das Denken der einzelnen zugreift, ist nicht nur ein Bemühen um nicht-diskriminierende Benennungen im Interesse Dritter; es ist eine Form geistiger Manipulation.






Prof. Dr. Lothar Fritze, Jahrgang 1954, Philosoph und Politikwissenschaftler, war von 1993 bis 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden. Er lehrte als außerplanmäßiger Professor an der TU Chemnitz. Letzte Buchveröffentlichung: „Die Moral der Nationalsozialisten“, Olzog Edition im Lau-Verlag, Reinbek 2019. Im September erscheint: „Angriff auf den freiheitlichen Staat. Über Macht und ideologische Vorherrschaft“, Basilisken-Presse, Marburg an der Lahn.

Foto: Freiheit des Geisteslebens: Ich denke, oder werde ich gedacht?