© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/20 / 31. Juli 2020

Nichtlinke Traditionslinien der Frankfurter Soziologie
Nicht alle Wege führten zu 1968
(dg)

Im vorigen Jahr feierte die Goethe-Universität das hundertjährige Bestehen des ersten soziologischen Lehrstuhls in Deutschland, der 1919 mit dem Nationalökonomen Franz Oppenheimer besetzt wurde. Für den Emeritus Wolfgang Glatzer, der in Frankfurt vom Adorno- und Habermas-Schüler zum Soziologie-Professor aufstieg, war das Anlaß, noch einmal die lokalen „Traditionslinien“ seines Faches nachzuzeichnen (Soziologie, 2/2020). Dabei wird deutlich, daß unter den Frankfurter Soziologen der Weimarer Republik nicht etwa Max Horkheimer, der seit 1930 das Institut für Sozialforschung leitete, sondern Oppenheimer, der Begründer des „liberalen Sozialismus“, stärkste Nachwirkungen zeitigte. Habe der Verfechter des „Dritten Weges zwischen Liberalismus und Sozialismus“ doch über seinen Doktoranden Ludwig Erhard, einen Hauptbegründer der Sozilen Marktwirtschaft und Vater des „Wirtschaftswunders“, bis in die 1960er einen derart großen politischen Einfluß ausgeübt wie kein anderer Soziologe. Für Glatzer hat Oppenheimer daher jenes erfolgreiche Wirtschaftssystem mit geschaffen, welches die „kapitalismuskritische Studentenbewegung später bekämpfte“. Deren „Traditionslinie“ wiederum sei nach 1990 abgebrochen, als man sich im Fach mit dem Status quo arrangierte und lernte, Modernisierung als Chance zu begreifen, Krisen für lösbar zu halten. 


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