© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/20 / 31. Juli 2020

Mission globaler Aufstieg
China kennt keine Grenzen des Wachstums / Statt derzeit 38 sollen ab dem Jahr 2030 mindestens 110 AKW Strom liefern
Florian Behrend

Beim Thema Klimaveränderung neigen Politik und Öffentlichkeit zu kindlichen Antworten auf hochkomplexe Probleme. So diskutiere man, kritisiert Joachim Sokol, der bei der Siemens AG für Forschung und Entwicklung zuständig ist, die Ener­giewende stets losgelöst vom global ungleich verteilten Bevölkerungswachstum, wie man überhaupt gern die Frage nach deren Gewicht und Sinn im internationalen Rahmen ignoriere (Kultur & Technik, 1/20).

Welch groteskes Bild gerade der deutsche Kohleausstieg bis 2038 vermittelt, ergibt sich für Sokol aus einem Vergleich mit China. Bis 2035 will die Volksrepublik ihre Kohlekapazität von heute 1.000 auf 1.400 Gigawatt ausweiten. Dagegen wirken die elf Gigawatt der vier größten deutschen Braunkohlekraftwerke, denen bis 2038 der Stecker gezogen werden soll, wie ein Tropfen im Meer. Grenzen des Wachstums scheinen Chinas Planer nicht zu kennen.

Die damit verbundenen massiven Umweltzerstörungen nähmen daher ungebremst ihren Fortgang: Den mit Abstand meisten Plastikmüll, geschätzte 330.000 Tonnen jährlich, spült der Jangtse – nach dem Nil und dem Amazonas der drittlängste Strom der Welt – ins Ostchinesische Meer. Wie in Afrika gibt es in China keine angemessenen abfallwirtschaftlichen Standards, so daß das Reich der Mitte nicht nur beim Kunststoffabfall die Weltrangliste der Müllproduzenten anführt.

Stein- und Braunkohle decken knapp zwei Drittel des Energiebedarfs, gefolgt vom Erdöl (25 Prozent). Wasserkraft mit sieben und sowie Gas und Kernkraft mit je drei Prozent sind weniger bedeutend. Da China erst am Anfang seiner „Mission globaler Aufstieg“ stehe, deren Ziel weg von der billigen „Produktion für die Welt“, hin zur „globalen Technologieführerschaft“ sei, könne es nicht auf Wind und Sonne vertrauen. Vielmehr würden sich nur die Proportionen innerhalb des Energiemix verschieben, wobei Kernkraft, Öl und Gas ihre Anteile erhöhen. Statt derzeit 38 sollen 2030 etwa 110 AKW Strom liefern. Darunter befinden sich demnächst auch schwimmende Atommeiler. Peking läßt im Südchinesischen Meer schon Inseln für schwerbefestigte See- und Flughäfen aufschütten, um territoriale Ansprüche zu untermauern. Den Energiebedarf dieser Inselfestungen sollen die dort stationierten 100- bis 200-Megawatt-Reaktoren decken.

Die Internationale Energieagentur (IEA) prognostiziert bis 2030 zudem ein Anwachsen der Ölimporte um elf Millionen Barrel pro Tag, das entspricht 80 Prozent des chinesischen Rohölbedarfs – den zukünftig Rußland verstärkt befriedigen soll. Mit dessen Ölgiganten Rosneft vereinbarten die Chinesen unlängst Verträge über ein Volumen von 355 Milliarden Dollar, die bis 2030 tägliche Lieferungen von 500.000 Barrel Öl sicherstellen.

Das Beispiel China zeigt für Sokol, daß es man es beim Thema Klimawandel mit einer „Phalanx von Verursachern aus Staaten, Regionen, Wirtschaft bis hin zu Individuen“ zu tun habe, die von einer globalen Transformation der Energiesysteme nur um den Preis eines erdumspannenden, zentral kontrollierten, radikalen und raschen Umbaus des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems zu bezwingen sei. In diesem weiten Rahmen erweist sich die nationale „Vorreiter“-Akrobatik deutscher Energiepolitiker als randständige Belanglosigkeit.

IEA-Prognosen zum Energieverbrauch:

 www.iea.org

 deutsches-museum.de