© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/20 / 31. Juli 2020

Traditioneller Geist in der Flasche
Nicht nur Jägermeister: Kleine Familienbetriebe beleben die Kultur der Kräuterbitter
Boris T. Kaiser

Lange als „Großvater-Schnaps“ und Synonym für klebrig-flüssig gewordene deutsche Spießigkeit verschrien, galt Jägermeister bei jungen Menschen hierzulande vor drei Jahrzehnten als alles andere als angesagt. Inzwischen ist der hochprozentige Kräutertrunk aus dem niedersächsischen Wolfenbüttel kaum noch von einer Party, ob im Club oder in der Studenten-WG, wegzudenken. Dafür mußte die grüne Flasche mit dem Hirsch auf dem Etikett allerdings einen langen Umweg über die USA gehen. 

Dort führten die firmeneigenen Werbestrategen den Magenbitter von Anfang an als hippen Partydrink in den Markt ein. Dazu schickte man Gruppen attraktiver, junger und leichtbekleideter Damen in Bars und Diskotheken, auf daß sie die dort anwesende Partyszene mit eisgekühlten Gratisproben des Schnapses versorgten. Später übernahm man das genial-einfache Konzept auch für den Werbefeldzug in Deutschland. Die so spendierten „Shots“ kamen gut an bei der neuen Zielgruppe, und es dauerte nicht lange, bis das gemeinsame Jägermeistertrinken zum schier unumgänglichen Ritual eines jeden Partyabends gehörte.

Aber auch jenseits der Neugeburt des Jägermeisters hat sich in den vergangenen Jahren ein neuer Hype um aus Wald- und Wiesenkräutern gewonnene Getränke entwickelt. Nicht immer muß es dabei alkoholisch zugehen. So erfreut sich die Österreichische Kräuterlimonade Almdudler auch weit über die Grenzen der Alpenrepublik hinaus größter Beliebtheit. Die unter anderem aus Melisse, Salbei, Enzian, Holunderblüte und Sonnenhut bestehende geheime Original-Rezeptur von 1957 wurde inzwischen um die verschiedensten Zutaten und Geschmacksrichtungen erweitert. Neben der heute obligatorischen zuckerfreien Variante gibt es das Erfrischungsgetränk zum Beispiel mit Mate und Guarana, Himbeergeschmack und sogar als Hanf-Limo.

Tropfen mit reichlich Geschichte 

Wer die „magische Wirkung“, die so manchen Kräutern nachgesagt wird, doch lieber hochprozentig verstärkt wissen will, aber Jägermeister zu konventionell findet, kann kleine Traditionsunternehmen wie „Stöss“ unterstützen. Der 1897 von Christian Stöss im damaligen Rossbach (heute: Hranice / Tschechien) entwickelte Bitter-Likör hat bereits eine belebte Geschichte hinter sich. Nachdem Karl Stöss, der Sohn des Erfinders, 1945 mitsamt der Produktion nach Oelsnitz im Vogtland übergesiedelt war und nach dessen Tod sein Sohn Alfred die Unternehmensführung übernahm, fand der Kräuterschnaps, dem wie vielen anderen eine appetitanregende und verdauungsfördernde Wirkung nachgesagt wird, auch überregional immer mehr Abnehmer.

Dies änderte sich zwangsläufig mit den strengen Auflagen und der späteren Verstaatlichung durch das DDR-Regime. Alfred Stöss war nun lediglich noch als Betriebsleiter des „VEB Erzgebirgische Likörfabrik Bockau“ angestellt. Der Familienname verschwand vom Etikett des Getränks, das nunmehr schlicht als „Vogtlandbitter“ verkauft wurde. Ausgerechnet nach der politischen Wende 1989 verstarb mit der Ehefrau von Alfred Stöss eine wichtige Stütze des Unternehmens, so daß sich das Familienoberhaupt gezwungen sah, die Produktion einzustellen. Erst 1999 veranlaßte die immer noch starke Nachfrage die beiden Töchter von Alfred Stöss dazu, wieder mit der Herstellung des beliebten Magenbitters zu beginnen.

Auch bei „Mutter’s Bester Tropfen“ in Mainz legt man Wert auf Tradition. Auf einer liebevoll gestalteten Netzseite wird anhand von alten Fotos und Dokumenten stolz die Geschichte des eigenen Familienunternehmens – „die bereits vor 1880 begann“ – präsentiert. Los ging alles mit der naturverbundenen, jungverwitweten Josefa Dossenbach, die mit heimischen Kräutern experimentierte und dabei eine Mixtur entwickelte, der sie den Namen „Hiddigeigei“ gab – dem gleichnamigen schwarzen Kater aus der 1854 verfaßten Versnovelle „Der Trompeter von Säckingen“ des Schriftstellers Joseph Viktor von Scheffel entliehen. Noch mehr Geist dürfte wohl kaum in eine Flasche gehen.