© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/20 / 07. August 2020

Viel Lärm um nichts
Wirkungsmacht: Jürgen Habermas verdanken wir so einiges – aber nichts Belastbares
Thorsten Hinz

Als „deutscher Aufklärer“, „Herr der Großdebatten“, „Vorwärtsverteidiger“, „Leuchtfeuer am Zeitstrom“, als „Weltmacht“ gar wird Jürgen Habermas gefeiert, der kürzlich seinen 91. Geburtstag beging. Nicht nur dem Philosophen, auch dem politischen Denker und Aktivisten verdanken wir so einiges: den Historikerstreit, die Räsonnements über postnationale oder postkonventionelle Identität, über deliberative Demokratie, den herrschaftsfreien Diskurs, den Weltstaat und die europäische Öffentlichkeit sowie über einen speziellen Verfassungspatriotismus.

Kaum etwas davon ist im Praxistest belastbar gewesen. Und trotzdem ist es folgenreich bis heute. Habermas’ politische Interventionen summieren sich zu einer enormen Schadensbilanz. Fatal war seine Warnung vor dem „D-Mark-Nationalismus“ nach dem Mauerfall. Er stieß sich an den in der Mangelwirtschaft groß gewordenen DDR-Bürgern, die vor den Auslagen in den Kaufhäusern des Westens vom Gefühl übermannt wurden, vom Schicksal und der deutschen Teilung betrogen worden zu sein, und die nun den Wunsch artikulierten, am Warenüberfluß der Bundesrepublik teilzuhaben.

Aus ästhetischem Blickwinkel wirkte das vulgär, doch es war menschlich verständlich. Aus Habermas sprach kein Weiser vom Berge, sondern ein von Leidenschaften Getriebener, den die Konfrontation mit dem Unvorhergesehenen in Panik versetzte. Er war, wie Ernst Nolte, sein großer Kontrahent im Historikerstreit, schrieb, eben „ganz und gar ein Produkt jenes Pendelschwungs, der so viele junge Menschen seiner Generation vom nationalen Enthusiasmus der Kriegszeit zu dem antinationalen oder doch antinationalstaatlichen Engagement der Nachkriegszeit führte ...“

Sein Alarmruf reichte hin, um die kollektive Mentalität aus historischer Zerknirschtheit, politischer Willfährigkeit und Europa-Romantik zu reaktivieren, der die Überführung der harten D-Mark in eine künftige Schuldenunion als sittlicher Zweck schmackhaft gemacht werden konnte. Mit dem Ergebnis, daß das von Habermas beschworene „Europa“ auf der Grundlage einer ressentimentgeladenen Geldgemeinschaft gebaut wird.

Die Identität moderner Staatsvölker ist durchweg postkonventionell, sofern man die scharf umrissene Nationalstaatlichkeit des 19. Jahrhunderts als Konvention zugrunde legt. Die Bundesdeutschen aber sollten sich nach Habermas überhaupt nicht mehr an Sprache, Tradition, Kultur orientieren, weil der nationale Bezug durch den Nationalsozialismus diskreditiert worden sei. Ihnen stünde lediglich das politische Bekenntnis zur Westbindung und den universalistischen Verfassungswerten zu.

Golo Mann hatte einst weniger philosophisch, dafür lebensklug geschrieben, eine Nation müsse sich über die Grundbegriffe ihres Zusammenlebens einig und „in leidlichem Frieden mit sich und der Außenwelt sein“. Sei sie das nicht, so könne keine Verfassung ihr helfen.

Ein Staatsvolk, dem seine Sprache, Kultur und jahrhundertelange Geschichte kein Unterscheidungskriterium mehr sein darf, deliriert im Unfrieden mit sich und den anderen. Zu der tatsächlichen Post- oder Unkonventionalität der Bundesrepublik fiel Habermas nicht viel ein: Machtpolitisch war sie so sehr subalterner Teil der Pax americana, daß die Politik auf Wirtschafts-, Handels- und Sozialfragen schrumpfte.

Die im Ursprung politisch kalkulierte Zurückhaltung etwa eines Konrad Adenauer verkam zur Entpolitisierung einer Gesellschaft, die Politik als Simulation betrieb. Der Simulationscharakter erlaubte es ihr, die Gesinnungs- vollständig von der Verantwortungsethik abzukoppeln, so daß sie als missionarische Hypermoral politisch wirkungsmächtig wurde und sich heute in immer schnellerer Folge in irrationalen Aktionen entlädt, die andere Länder irritierten.

Da im Kampf der Kulturen der westliche Universalismus nur partikulare Geltung besitzt, hat Habermas vor 15 Jahren unter der Hand einen Schwenk vollzogen. Die Staatsvölker würden sich den Verfassungspatriotismus nicht mehr „allein in ihrem abstrakten Gehalt, sondern konkret aus dem geschichtlichen Kontext zu eigen machen“. Es liege „im eigenen Interesse des Verfassungsstaates, mit allen kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewußtsein und die Solidarität von Bürgern speisen“. 

Wieder einmal viel Lärm um nichts, aber auch der hatte Folgen. Die Auslegung des Grundgesetzes durch den Verfassungsschutz gehorcht heute einer antifaschistisch-universalistischen Dogmatik. Der Versuch, einen konservativen Verfassungspatriotismus als Verteidigungslinie gegen linksideologische Übergriffigkeit zu installieren, ist daher verlorene Liebesmüh.

Kopfschüttelnd nimmt man seine Vision der „Verfassungsgemeinschaft der europäischen Bürger“ oder des Weltstaats zur Kenntnis. Die Vorstellung von Weltbürgern, welche die Probleme aus einer global verbindlichen Binnenperspektive betrachten, ist bereits wegen der grassierenden Identitätspolitik weltfremd.

Als 2003 in Europa Großdemonstrationen gegen den drohenden Irak-Krieg stattfanden, glaubte er der „Geburt einer europäischen Öffentlichkeit“ beizuwohnen. In ihr soll „demokratische Legitimität“ entstehen, „die Kombination vernünftiger Kommunikation mit der Teilnahme aller potentiell Betroffenen am Entscheidungsprozeß“. Das aber scheitert bereits im eigenen Land, wenn sämtliche Medien mit hysterisch aufbereiteten Monothemen die Menschen in einer Weise dauerberieseln, die der psychologischen Kriegsführung gleichkommt. St. Jürgens Reich der Politik ist nicht von dieser Welt.