© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/20 / 07. August 2020

„Ein Austritt wäre höchst bedauerlich“
Istanbul-Konvention: Jahre nach deren Ratifizierung irritieren Ankara und Warschau mit Austrittsabsichten
Curd-Torsten Weick

Die säkularen jungen Damen in der Türkei gehen auf die Barrikaden. Nachdem der stellvertretende Vorsitzende der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), Numan Kurtulmus, Anfang Juli erklärt hatte, daß die Entscheidung der Türkei, die Konvention des Europarates zur „Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“, auch bekannt als die Istanbuler Konvention, zu ratifizieren, „falsch“ gewesen sei, bringen die Frauen von der Plattform „Wir werden die Femizide stoppen“ (Kadin Cinayetlerini Durduracagiz Platformu, KCDP) ihren Protest auf die Straße. 

Aserbaidschan und Rußland bleiben außen vor 

Nach Angaben des Onlinedienstes Ahval, riefen sie vergangene Woche zu Demonstration in 13 Provinzen auf. „Wir werden Abstand halten, wir werden unsere Masken tragen, und wir werden uns zu dem Protest treffen“, twitterte Fidan Ataselim von der Plattform KCDP am Samstag. Der Aufruf wird über soziale Medien verbreitet, unter Hashtags mit der Aufschrift „Istanbuler Konvention rettet Leben“ und „Istanbuler Konvention ist ein Muß“.

Die Istanbul-Konvention fordert verstärkte Unterstützungsdienste für Frauen und Kinder, einschließlich Vergewaltigungskrisenzentren und Frauenhäuser. Das Gesetz ermöglicht es Frauen, die häuslicher oder sexueller Gewalt ausgesetzt sind, wirksamere Maßnahmen gegen ihre Peiniger zu ergreifen, während gleichzeitig geschlechtsspezifische Vorurteile in den Strafverfolgungs- und Gerichtssystemen abgebaut werden. Kurtulmus hatte in einem Fernsehinterview angedeutet, daß die Regierung den Rücktritt von der Konvention in Erwägung ziehen könnte. „Wenn unser Volk eine solche Erwartung hat, können wir dem nicht gleichgültig gegenüberstehen. Da wir sie ordnungsgemäß unterzeichnet haben, wäre es möglich, ordnungsgemäß aus der Konvention auszutreten“, zitiert die Hürriyet den 61jährigen.

Die Türkei war das erste Land, das die Konvention, die 2011 verabschiedet wurde, am 12. März 2012 ratifizierte. Deutschland folgte erst im Jahr 2017. Bis dato haben – mit Ausnahme Rußlands und Aserbaidschans – 46 Europaratsmitglieder die Konvention unterschrieben. Erst 34 haben sie auch ratifiziert. Nicht in Kraft gesetzt wurde sie unter anderem von der Tschechischen Republik, Ungarn, der Ukraine und dem Vereinigten Königreich.

Die Istanbul-Konvention zielt speziell auf Gewalt gegen Frauen ab und verpflichtet die ratifizierenden Länder, geschlechtsspezifische Verbrechen zu verhindern, den Opfern angemessenen Schutz und Dienstleistungen zu bieten und die Verfolgung der Täter zu gewährleisten. Parallel dazu soll sie jedoch auch einen „Beitrag zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau“ leisten sowie die „echte Gleichstellung von Frauen und Männern, auch durch die Stärkung der Rechte der Frauen“ fördern.

Artikel 12, Kapitel III „Prävention“ verpflichtet die Vertragsparteien zudem, Maßnahmen zu ergreifen, um „Veränderungen von sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Frauen und Männern“ zu erreichen. „Vorurteile, Bräuche, Traditionen und alle sonstigen Vorgehensweisen, die auf der Vorstellung der Unterlegenheit der Frau oder auf Rollenzuweisungen für Frauen und Männer beruhen“, seien „zu beseitigen“. Die Vertragsparteien müssen zudem sicherstellen, daß „Kultur, Bräuche, Religion, Tradition oder die sogenannte ‘Ehre’ nicht als Rechtfertigung für in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallende Gewalttaten angesehen“ werden.

„Es gibt zwei Punkte in dieser Konvention, denen wir nicht zustimmen. Erstens die Geschlechterfrage und zweitens die Frage der sexuellen Orientierung. Es gibt auch andere Themen, aber diese beiden waren die Konzepte, die den LGBTI und Randelementen in die Hände gespielt haben. Sie haben sich hinter diesen Konzepten versteckt“, betonte  Kurtulmus. Themen wie Ehre, Tradition und Bräuche lägen in der „Verantwortung der Regierung“. „Die Istanbuler Konvention ist etwas Falsches, das sage ich sehr deutlich“, sagte Kurtulmus und fügte hinzu, daß viele andere AKP-Gesetzgeber der gleichen Meinung seien.

Ankara: Gleichheit von Mann und Frau gesichert  

Überhaupt, so der stellvertretende AKP-Vorsitzende abschließend, sei die These ‘Häusliche Gewalt würde ohne die Istanbuler Konvention zunehmen’ ebenfalls falsch. „Die Chancengleichheit von Frauen und Männern ist derzeit eines der grundlegendsten Themen innerhalb des türkischen Rechtssystems“. 

Demgegenüber fordern türkische Frauenrechtsgruppen seit langem die ordnungsgemäße Umsetzung der Istanbuler Konvention. Vor diesem Hintergrund verweist KCDP darauf, daß allein im Juni 27 Frauenmorde in der Türkei registriert worden seien. Zudem kritisieren die Frauenrechtlerinnen die „weit verbreitete häusliche Gewalt“ sowie „homophobe und transphobische Angriffe“ auf die LGBTI-Gemeinschaft.

Auch in Polen, das den Vertrag im August 2015 ratifizierte, ist eine Debatte um die Istanbul-Konvention entbrannt. Am 27. Juli war beim Ministerium für Familie, Arbeit und Sozialpolitik ein Antrag von Justizminister Zbigniew Ziobro eingegangen, die Arbeit am Ausstieg aus der „sogenannten Anti-Gewalt-Konvention“ zu beginnen. Angaben von Rzeczpospolita zufolge verwies Ziobro darauf, daß die Konvention ideologischer Natur sei, da sie das Konzept des sogenannten soziokulturellen Geschlechts einführe. Auch seien die Standards der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen im polnischen Recht bereits gewährleistet.

„Dies sind keine parteipolitischen Spiele. Wir wollen das Wort halten, das wir den Wählern vor fünf Jahren gegeben haben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Vereinigte Rechte ihre eigene Identität verleugnen würde. Bei der Verteidigung einer traditionellen polnischen Familie mobilisierten wir die Wähler, was sich in dem Erfolg von Andrzej Duda niederschlug. Die Konvention wird gekündigt“, versicherte der stellvertretende Minister für Staatsvermögen, Janusz Kowalski.

Der mögliche Austritt Polens, eine Entscheidung darüber soll im September fallen, sei alarmierend, erklärte die Generalsekretärin der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) Marija Pejcinovic Buric. „Die Istanbul-Konvention ist der wichtigste internationale Vertrag des Europarates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt – und das ist sein einziges Ziel“, betonte die Kroatin.  Wenn es irgendwelche Mißverständnisse über die Konvention gebe, sei man bereit, diese in einem konstruktiven Dialog zu klären. Ein Austritt aus der Konvention von Istanbul wäre höchst bedauerlich und ein „großer Rückschritt für den Schutz von Frauen vor Gewalt in Europa“.