© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/20 / 07. August 2020

Der Kulturkampf um Grenzen ist in vollem Gange
Knirschende Weltanschauungsgrammatik
(dg)

Der gegenwärtige, durch die Corona-Pandemie bedingte Zustimmungsverlust „populistischer Parteien“ werde nicht von Dauer sein. Harry Lehmann, der das prognostiziert, ist weder Wahlforscher noch Politologe, sondern ein auf Musikästhetik und Kunstphilosophie spezialisierter freier Autor. Trotzdem beruft er sich bei dieser Lageeinschätzung nicht auf sein subjektives Gefühl, sondern auf objektive Veränderungen in der Kunstszene als Reaktion auf die sich seit zwanzig Jahren vollziehende, sich aber seit 2016, nach dem Brexit und der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, beschleunigende „Neuformierung des politischen Raums“. Einer These Hanno Rautenbergs folgend, der zufolge der „neue Kulturkampf“ zwischen linker und rechter Identitätspolitik die Krise der liberalen Demokratie widerspiegele, nimmt Lehmann eine „Omnipräsenz von politischer Kunst“ wahr. Das sei eine zwangsläufige Begleiterscheinung von Umbruchzeiten. Denn es gehöre zum genuinen Vermögen der Kunst, das sich von keinem anderen gesellschaftlichen Funktionssystem erbringen lasse, Sollbruchstellen erfahrbar zu machen, an denen gängige Moralvorstellungen zerbröseln und der Mangel an gemeinsamen Wirklichkeitsvorstellungen offenbar werde. Die Künste könnten daher Werke schaffen, die – wenn sie gelängen – erfahrbar machten, daß es in der bisher gültigen „Weltanschauungsgrammatik“ westlicher Demokratien „knirscht“ und vertraute lebensweltliche Schemata dysfunktional würden. Der Prozeß sei in vollem Gange. Die politische und die kulturelle Landschaft richteten sich am zentralen „globalisierungsinduzierten“ Konfliktthema „Grenzen“ neu aus (Merkur, 6/2020). 


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