© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/20 / 07. August 2020

Er machte den bürgerlichen Konzertbetrieb kenntlich
Ein künstlerisches Gewissen, ein einsamer Weg: Zum 100. Geburtstag des US-amerikanischen Pianisten William Masselos
Jens Knorr

Daß es die Scheidung zwischen E- und U-Musik nur in Old Europe gäbe, nicht aber in der Neuen Welt, ist eine von Propagandisten der Unterhaltungsindustrie gepflegte Legende. Wer sich für die Neue Musik einsetzt, solange sie noch neue Musik ist, der bringt es hier wie dort selten in die Charts oder zum Poster-Boy bzw. -Girl des Konzertgeschäfts. Sein Mehrwert für die Tonträgerindustrie bleibt zu Lebzeiten gering. Es gilt das Wort Heiner Müllers, daß der Erfolg einsetzt, wenn die Wirkung nachläßt. Wirkung spaltet, Erfolg setzt Einverständnis voraus. Wie es in Europa wirkungsmächtige Pianisten diesseits des Mainstreams gab und gibt – in Deutschland beispielsweise Manfred Reinelt (1932–1964), Gerhard Erber (*1934), Steffen Schleiermacher (*1960) –, so gab und gibt es sie immer auch jenseits des großen Teichs, über den immer noch zu wenig herüber- und hinüberkommt.

Der US-amerikanische Pianist William Masselos hat es lediglich zu einem kärglichen Eintrag in der englischsprachigen Wikipedia gebracht, die deutschsprachige und auch das als „Klavier-Michelin“ apostrophierte Buch des deutschen Musikkritikers Joachim Kaiser über Große Pianisten des vorigen Jahrhunderts kennt ihn nicht. Doch gehört er zweifelsohne in der Hochgestimmten Kreis.

William Masselos wird am 11. August 1920 in Niagara Falls, New York, als Sohn einer niederländischen Mutter und eines griechischen Vaters geboren. Mit neun Jahren erhält er seinen ersten Klavierunterricht an dem New York‘s Institute of Musical Art, der späteren Juilliard School. Er studiert bei Carl Friedberg und Nelly Reuschel, die beide noch Schüler von Clara Schumann gewesen waren, außerdem bei David Saperton, dem Schwiegersohn Leopold Godowskys, einem weiteren bedeutenden US-amerikanischen Pianisten und Klavierpädagogen. Mit 23 Jahren beendet Masselos sein Klavierstudium.

Bereits das Debüt, das der Student im März 1939 in der New Yorker Town Hall gibt, beweist ihn gleich auch als kompetenten Interpreten der Klaviermusik US-amerikanischer Komponisten des 20. Jahrhunderts, der er sich zeitlebens in Dienst stellen wird. Auf seinem Programm finden sich Charles Tomlinson Griffes’ Klaviersonate und Aaron Coplands „Passacaglia“. Nicht, daß er allein auch mit den gängigen Repertoireklassikern hätte Karriere machen können: Er konzertiert mit den großen Orchestern unter so namhaften Dirigenten wie Mitropoulos, Stokowski, Ormandy, Monteux, Klemperer oder Bernstein. Aber in die Musikgeschichte schreibt er sich als erster Interpret von Werken John Cages, Marga Richters, Alan Hovhanesss, William Mayers, Robert Helps’, Ben Webers und Paul Bowles’, letzterer hierorts eher als Schriftsteller bekannt, und weiterer Komponisten ein. 

Edition seines diskographischen Erbes

Einige der Vorgenannten finden sich in einer Edition, die Sony zum 100. Geburtstag von Masselos herausgebracht hat. Die Aufnahmen entstanden zwischen 1950 und 1971 für RCA und Columbia. Sechs von ihnen liegen erstmals auf CD vor, sorgfältig nach den Originalbändern remastert.

An vorderster Stelle sind Masselos’ Aufnahmen der ersten Klaviersonate von Charles Ives zu würdigen, dessen überragende Bedeutung für die Musik des 20. Jahrhunderts lange verkannt und spät erst erkannt worden ist. Masselos hat die Sonate 1949 uraufgeführt und 1953 für Columbia und 1966 für RCA aufgenommen. Sind der ersten Aufnahme noch die Male der Erarbeitung anzuhören und scheinen die ungewohnten und überraschenden musikalischen Ereignisse der Monstersonate mit Urgewalt auf das arglose Ohr des Hörers einzustürzen, so erscheinen sie in der zweiten erst ganz folgerichtig, weil Masselos die Regeln nun frei zu handhaben weiß, denen sie Ives unterworfen hat. Die Mono-Aufnahme klingt modern, die Stereo-Aufnahme klassisch.

Auch Aaron Coplands Piano Fantasy, die Copland für William Kapell hatte komponieren wollen, der jedoch 1953 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war, hat Masselos 1957 in der Juilliard Concert Hall uraufgeführt, und zwar gleich zweimal, beide Darbietungen getrennt durch eine kurze Pause. Seine Einspielung erschien zusammen mit Coplands Piano Variations. In Stücken von Ben Weber, Bowles und Norman Dello Joio erweist sich Masselos als zuhörender und zuspielender Kammermusiker. Und in den Stücken Eric Saties, die, richtig gespielt, den bürgerlichen Konzertbetrieb zur Kenntlichkeit zu entstellen vermögen, jedoch nur allzugern auf musikalische Possen verkürzt werden, wandelt Masselos Ironie in Zärtlichkeit. In den Davidsbündlertänzen op. 6 geht er den „Todtentänzen, Veitstänzen, Grazien- und Koboldstänzen“ des frischverlobten Robert Schumann nach, aber weder dem „brausende(n), übermüthige(n) Sturmläufer“ Florestan, noch dem „sanfte(n) Jüngling, der sich stets bescheiden im Hintergrund hält“, Eusebius, auf den Leim. Das hat er von seinen Lehrern.

Am 23. Oktober 1992, im Alter von 72 Jahren, verliert Masselos seinen Kampf gegen Morbus Parkinson. Das Beiheft zitiert aus einer Rezension Harris Goldsmiths vom legendären Konzert, das Masselos 1969 in der Carnegie Hall gegeben hat. Der Pianist „hätte auch mit den Hits von Liszt, Tschaikowski und Rachmaninow den Weg der Cliburns, der Brownings oder der Aschkenasis wählen können, um die Herzen der Zuhörer zu gewinnen. Er besitzt mehr als genug Klangkultur, Technik und Flair, um diesen Pfad einzuschlagen, und sicher hätte er auch damit höchste Gipfel erreicht. Einzig ein künstlerisches Gewissen, dem er sich nicht versagen konnte, ließ ihn seinen einsamen Weg weitergehen als Vorkämpfer des Vergessenen, des Vernachlässigten, des Fremdartigen und des Neuen.“

Die Edition seines diskographischen Erbes ist eine Großtat. Sie baut eine der transatlantischen Brücken, über die der alteuropäische Hörer guten Mutes gehen kann.

William Masselos Sämtliche RCA- und Columbia-Alben Sony 2020  www.sonyclassical.com