© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/20 / 07. August 2020

„Wir verzichten auf Rache und Vergeltung“
Vor siebzig Jahren wurde in der „Charta der Heimatvertriebenen“ jeglichem Revanchismus abgeschworen und eine Verständigung in Europa angemahnt
Gernot Facius

Den Menschen in ihren abgewetzten Anzügen und Kleidern, die sich am 6. August 1950 vor der Ruine des Stuttgarter Schlosses versammelten, waren die Strapazen von Flucht und Vertreibung anzusehen. Die meisten von ihnen fristeten, vom „Wirtschaftswunder“ war noch nicht die Rede, ein armseliges Dasein, abgelehnt oder geschmäht von einheimischen Landsleuten. 

Noch im Herbst 1949 lebten allein in Bayern mehr als 94.000 Personen in 465 Flüchtlingslagern; das letzte wurde dort erst 1963 aufgelöst. 1950 waren im Westen Deutschlands noch zwei von fünf „Neubürgern“ arbeitslos, weit über die Hälfte hatte keine ausreichende Wohnung. „Die Verzweiflung der Vertriebenen ist nicht zu beschreiben“, kommentierte die Neue Zürcher Zeitung, sie habe sich nur deshalb noch nie in Verzweiflungsakten geäußert, weil sie gepaart sei mit einer aus Hoffnungslosigkeit geborenen Apathie. Ruhe und Ordnung seien jedoch nur unter einer dünnen Decke bewahrt, die jederzeit brechen könne. 

Viele hofften noch auf eine Rückkehr in die Heimat

Derartige Befürchtungen, daß sich die Entwurzelten radikalisieren und zu Revoluzzern werden könnten, waren weit verbreitet. Doch der zentrale Satz der an jenem Sommertag in der Schwabenmetropole offiziell verkündeten Charta der Heimatvertriebenen, die 24 Stunden zuvor im Kurhaus von Bad Cannstadt unterzeichnet worden war, lautete „Wir verzichten auf Rache und Vergeltung“. Die Formulierung war erstmals Ende November 1949 bei der sudetendeutschen Ackermann-Gemeinde, einer katholischen Gesinnungsgemeinschaft, in ihrer Adventsdeklaration aufgetaucht, sie ist also durch und durch christlich motiviert. 

Daß sie in Stuttgart, kurz nach dem fünften Jahrestag der Beendigung der Potsdamer Konferenz der Großen Drei, wortgleich übernommen wurde, war ein politisches Bekenntnis nicht nur nach außen, sondern auch eine Botschaft nach innen, in die eigenen Reihen. „Der Satz war an die Schicksalsgefährten selbst gerichtet, solche Gefühle im Herzen nicht wachsen zu lassen, ihnen zu widerstehen. Dieser Botschaft ist der Satz angefügt: ‘Dieser Beschluß ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im Besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat’“, schrieb Erika Steinbach als Präsidentin des Bundes der Vertriebenen 2009 in der Welt. 

Wer auch immer beklage, daß die Opfer des Nationalsozialismus ausgeblendet worden seien, habe diese Passage überlesen oder ignoriert. „Die wegweisende, ihrer Zeit vorauseilende Botschaft der Vertriebenen damals aber war das postulierte Engagement für ein friedliches und geeintes Europa, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.“ Man dachte zu diesem Zeitpunkt freilich noch nicht in EU-Kategorien wie heute, der Gedanke an eine Einigung des vom Krieg zerrissenen Kontinents, in welcher konkreten Gestalt auch immer, war allerdings schon präsent; und viele hofften auf eine Rückkehr in die Heimat – ein Trugschluß, wie sich schnell herausstellen sollte. 

Gleichwohl hatten die Verfechter einer Rückkehr das Recht auf ihrer Seite. Sie konnten sich auf die 1948 verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte berufen, in der es heißt, jeder Mensch habe das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren. Das Vertreibungsverbot fand Eingang in internationale Abmachungen. Doch für die deutschen Vertriebenen ließ sich das Heimatrecht nicht durchsetzen, weder in der Zeit des Kalten Krieges noch nach dem Fall von Mauer und Stacheldraht. Politiker aller demokratischen Parteien lobten die Charta als konstruktiven Beitrag für eine neue Friedensordnung und schmeichelten den Autoren. 

Aber was ist davon geblieben? Am Ende wenig. 1975, als das Dokument 25 Jahre alt wurde, wünschte sich der damalige Bundesinnenminister Werner Maihofer (FDP), daß man von einem „Tag der nationalen Einkehr“ spreche. Er stellte den Jahrestag von Stuttgart 1950 in eine Reihe mit dem Gedenken an den 17. Juni 1953 und den 20. Juli 1944. Für Norbert Lammert (CDU), Bundestagspräsident von 2005 bis 2017, gehörte die Charta zu den „Gründungsdokumenten“ der Bundesrepublik Deutschland. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nannte die Initiatoren noch 2009 „Botschafter der Versöhnung und der Verständigung in Europa“. 

Von Historikern wurde die Charta, wie die Ost-Denkschrift der EKD und der Briefwechsel der deutschen und polnischen Bischöfe, in den Kontext der großen Versöhnungsinitiativen gestellt. Otto Schily (SPD), damals Bundesinnenminister, würdigte im Jahr 2000 die „weitreichende Bedeutung“ des Dokuments, weil es „innenpolitisch radikalen Bestrebungen den Boden entzog und außenpolitisch einen Kurs der europäischen Einigung unter Einbeziehung unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarn vorbereitete“. Wolfgang Schäuble (CDU) sprach 2006 von einem „beeindruckenden Zeugnis menschlicher Größe und Lernfähigkeit. Nicht Revanchismus, nicht Niedergeschlagenheit bestimmten diese Charta, sondern der Glaube an die Zukunft, Europäertum, christliche Humanität“. Schöne Worte. 

Aber sie wurden allmählich überlagert von Distanzierungen von Initiatoren des Dokuments, denen selbst die Grünen-Politikerin Antje Vollmer einst attestiert hatte, „ihrer Zeit voraus“ gewesen zu sein. Heute wird von Kritikern bemängelt, daß die deutsche Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg in der Charta nicht explizit zur Sprache komme. Dieser Befund ist, wer möchte es leugnen, nicht ganz von der Hand zu weisen. Darf man aber aus diesem Grund die Stuttgarter Geste geringschätzen? Sie ging von einer Opfergruppe aus, deren zutiefst traumatische Erfahrungen erst wenige Jahre zurücklagen. „Viele hielten den Vertriebenen vor, ihr Schicksal sei doch die Quittung für früheren Nationalismus und für den von Deutschland begonnenen Krieg“, sagte beim Tag der Heimat 2003 der damalige Bundespräsident Johannes Rau. „Das war nicht nur herzlos, das war auch dumm. Ich habe das nie verstehen können.“ 

Bereits drei Jahre zuvor hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) den Nörglern ins Stammbuch geschrieben: „Wenn man die Bedeutung dieser Charta ausreichend würdigen will, muß man sich die Situation vor Augen führen, in der sich die Vertriebenen 1950 befanden.“ Das war sozusagen die Gegenposition zu dem Dauervorwurf von linker und linksliberaler Seite, das Dokument von Stuttgart habe einem „nationalistisch verengten Opferdiskurs“ Vorschub geleistet, es relativiere die „deutsche Schuld“. In Politik und Publizistik war man vor dem August 1950 auf scharfe Töne und aggressive Forderungen gefaßt. Auf eine so eindeutige Absage an Revanche und auf die Willensbekundung, als vom Schicksal hart Betroffene zum Bau eines neuen, friedfertigen Europa beizutragen, darauf war man nicht eingestellt. Aus keinem Satz der Deklaration, vorgetragen von dem jungen Oberschlesier Manuel Jordan, sprach Haß gegenüber Nachbarvölkern. 

Nährboden für politische Aufpeitscher war vorhanden

Ein „wahres deutsches Wunder“ titelte Jahre später die Frankfurter Allgemeine. Das Blatt verschwieg nicht, daß unter den Vertriebenenfunktionären auch ehemalige prominente NS-Parteigänger waren. Doch solche politisch Belastete gab es in der frühen Nachkriegszeit in fast allen Organisationen und Parteien. Gerecht wird man der Charta aber nur, wenn man sich vor Augen führt, zu welcher Zeit und unter welchen Umständen sie entstanden ist. Die Charta nennt das Recht auf die Heimat eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit. „Damit“, so die FAZ, „war klar, daß auch die Polen, die – teilweise selbst vertrieben nun in den alten deutschen Gebieten jenseits von Oder und Neiße wohnten, ein Heimatrecht an ihrem neuen Wohnort erwerben würden. Daß es kein Zurück mehr zum alten Zustand geben würde, wurde den meisten Vertriebenen bald klar.“ 

Die Distanzierung von Inhalten der Charta durch große Teile der politischen Klasse hat allerdings bewirkt, daß die BdV-Initiative, den 5. August zu einem eigenständigen nationalen Gedenktag an die Opfer von Flucht und Vertreibung zu erklären, im Bundestag abgeblockt wurde. Die seinerzeitige Koalition aus CDU/CSU und FDP beugte sich dem Druck von SPD und Grünen. Stattdessen favorisierte man den „Weltflüchtlingstag“ der Vereinten Nationen (20. Juni) – eine leicht zu durchschauende Alibi-Entscheidung. In diesem Jahr hat es sich wieder gezeigt: Die politischen Vorgänge in den Krisenregionen in Afrika und Asien, die immer neue Flüchtlingsströme auslösen, haben die Erinnerung an das Geschehen vor einem Dreivierteljahrhundert nahezu verdrängt. 

Und es ist zu befürchten, daß die Macht des Faktischen sich weiter durchsetzen wird. Da geben sich selbst die Spitzen der Vertriebenenverbände keinen Illusionen hin. „Ich stelle in Deutschland in Teilen unserer Gesellschaft eine verwunderliche Zurückhaltung fest, auch der eigenen Opfer zu gedenken“, bedauerte schon vor Jahren BdV-Präsident Bernd Fabritius. Und was noch schwerer wiegt: Manche Zeitgenossen sind nicht in der Lage, die Vertreibung der Deutschen richtig einzuordnen: als erstes Großverbrechen in Friedenszeiten. Politische Aufpeitscher hätten in der damaligen Situation durchaus einen geeigneten Nährboden für militante Handlungen der bettelarm in die sogenannte „neue Heimat“ gekommenen Landsleute finden können. 

Daß die Millionen Vertriebenen und Flüchtlinge nicht zum sozialen Sprengkörper im Spannungsfeld Europa wurden, das ist auch den Initiatoren der Charta von Stuttgart zu verdanken. Die europäische Nachkriegsgeschichte hätte auch eine andere Richtung einschlagen können. Deshalb kann man sich getrost dem Urteil von Erika Steinbach anschließen: „Der 5. August 1950 ist für Deutschland und für Europa von unschätzbarer Bedeutung.“