© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/20 / 07. August 2020

Der Lockruf des Geldes
Vor dreißig Jahren startet die DDR-Oberliga in ihre letzte Saison: Viele Stars sind bereits im Westen, die Zukunft vieler Vereine ist ungewiß
Björn Harms

Als die DDR-Oberliga am 11. August 1990 in ihre vorerst letzte Saison startet, ist die Ausgangslage vieler Vereine denkbar schlecht. Der gesellschaftliche Umbruch überlagert zu diesem Zeitpunkt alle Lebensbereiche. Klar, daß auch der Volkssport Fußball davon nicht ausgenommen ist. Die meisten Menschen in Mitteldeutschland haben andere Sorgen als Fußball. Der Dauerkartenabsatz der Clubs bricht massiv ein, die Stadien bleiben leer. Viele Stars und Nachwuchshoffnungen der DDR haben sich ohnehin bereits in Richtung Westdeutschland verabschiedet. Denn schon im November 1989 stehen gewiefte Bundesliga-Manager wie Bayer Leverkusens Rainer Calmund Gewehr bei Fuß, um sich ihre Dienste zu sichern. Im Fußball schlägt der kapitalistische Systemwechsel mit voller Wucht ein.

Sogar Helmut Kohl greift in die Wechselgeschäfte ein

Calmund fädelt schon früh den Wechsel des DDR-Nationalspielers Andreas Thom ein, der als erster ostdeutscher Spieler im Westen unterschreibt. „Ich mußte nur schnell sein“, erinnert sich der langjährige Bayer-Manager später. Für den Transfer greift er tief in die Trickkiste: Sechs Tage nach dem Mauerfall spielt die DDR in Wien gegen Österreich. Der Manager der Werkself schickt den Betreuer der A-Jugend Wolfgang Karnath an die Donau, „ein abgewichtes Kerlchen“, wie Calmund ihn beschreibt. 

Auf der Tribüne im Wiener Praterstadion sitzen alle großen West-Vereine mit ihren Scouts und Agenten. „Mir war klar, daß es eine Invasion des Westens geben wird und wir nichts ausrichten können“, beschreibt Calmund die Situation. Kurzerhand schleust er Karnath mit einer Fotografen-Akkreditierung in den Innenraum ein, später ergaunert sich „Dr. Karnath“ sogar noch einen offiziellen Ausweis als Teamarzt. So gelangt der Bayer-Betreuer unbemerkt auf die Auswechselbank der DDR. Nach dem Abpfiff sammelt er von den verdutzten Spielern Kontakte ein. Bereits einen Tag später steht Rainer Calmund bei der Familie Thom im Berliner Wohnzimmer. Und schon ist der Deal eingetütet.

 Für den 24jährigen DDR-Fußballer des Jahres 1988 erhält Serienmeister BFC Dynamo schließlich satte 3,2 Millionen Mark. Die Folgen aber sind gewaltig: Viele Spieler wittern das große Geld, windige Vermittler aus dem Westen schalten sich ein. Im Osten herrscht Goldgräberstimmung. Ganze Mannschaften fallen auseinander, die Stars der Liga entschwinden über Nacht. Schließlich greift sogar Bundeskanzler Helmut Kohl ein.

Als dieser kurz vor Weihnachten 1989 eine große Rede am Elbufer in Dresden hält, beschweren sich Dresdner Funktionäre über die Leverkusener Machenschaften. Das stehe einem westdeutschen Konzern nicht gut, meint der Kanzler. Also untersagt die Chefetage der Bayer AG den nächsten fast perfekten Transfer von Abwehrspieler Matthias Sammer zu Bayer Leverkusen. Der landet schließlich beim VfB Stuttgart. Ulf Kirsten folgt Andreas Thom später zu Bayer Leverkusen, Frank Rohde und Thomas Doll wechseln zum HSV. 

Dazu setzt der ausgehandelte Modus der letzten DDR-Oberligasaison die zwölf teilnehmenden Vereine unter Druck: Meister und Vizemeister sollen ab 1991 in die Bundesliga eingegliedert werden, die Mannschaften von Platz 3 bis 6 landen direkt in der zweiten Liga. Zwei weitere Zweitligaplätze werden in einer Qualifikationsrunde unter den Plätzen 7 bis 12 ausgespielt. Der Rest ist raus aus dem Profifußball. Ausgehandelt hatten diesen Deal der damalige DFB-Präsident Hermann Neuberger und sein DDR-Gegenüber Hans-Georg Moldenhauer vom ostdeutschen Fußballverband DFV. In einer Hotelsuite auf Malta kommt es am Rande eines Uefa-Kongreßes im April 1990 zum Showdown, der in einem 10-Stunden-Gespräch mündet. 

Moldenhauer will so viele Ost-Klubs wie möglich in die Bundesliga bringen, Neuberger hingegen strebt eine fußballerische Wiedervereinigung erst nach der EM 1992 an. „Wir im Fußball bestimmen nicht das Tempo“, lautet damals Moldenhauers trockene Antwort. „Die Menschen haben die Mauer eingerissen, da konnten wir doch keine neue Fußball-Mauer errichten“, sagt er später der Mitteldeutschen Zeitung. Der Modus verführt die Vereine. Mit aller Kraft will man es in die Bundesliga schaffen, koste es, was es wolle. Häufig erhalten Spieler bundesligaübliche Gehälter von bis 250.000 Mark – exklusive Prämien. Das muß früher oder später an die Substanz gehen. Zaghafte Stimmen, die Vereine könnten sich überheben, werden gekonnt ignoriert. Der goldene Westen lockt. 

Frisches Geld kommt über einen neuen Fernsehvertrag herein. Die Ufa Film- und Fernseh GmbH unter ihrem bestens vernetzten Chef Bernd Schiphorst (späterer Präsident von Hertha BSC) sichert sich für die letzte Saison die Fernsehrechte an der DDR-Oberliga. Unterdessen hat auch die Mönchengladbacher Spielmacherlegende Günter Netzer vor Saisonbeginn für die Schweizer Werbefirma CWL den ersten privaten Deal über Bandenwerbung in der Liga ausgehandelt.

Doch kurz nach dem Start der letzten Saison hat die Liga an ganz anderer Stelle ein dickes Problem: Ab Herbst 1990 herrschen in und um die Stadien beinahe anarchische Zustände. Schwere Ausschreitungen sind an der Tagesordnung. „Im Prinzip herrschte das blanke Chaos“, beschreibt ein ehemaliger Dynamo-Dresden-Hooligan die Situation im Buch „Schwarzer Hals, gelbe Zähne“. „Du hast nur gefühlt, du bist frei, diese scheiß DDR kann dich am Arsch lecken.“ Das sei das Signal gewesen: „Jetzt zeigst du es denen mal so richtig. Dann brach die Zone richtig zusammen und gerade beim Fußball war ständig Fasching.“ Der Haß auf die Ost-Polizei sei „größer denn je“ gewesen. „Die selbst schwebten ja in aufgelösten Strukturen und waren oft total ratlos. Sie wußten doch überhaupt nicht wie sie sich nun verhalten sollen. Oder die sind eben komplett durchgedreht – dann hattest du Pech.“

Die Atmosphäre heizt sich immer weiter auf und mündet schließlich am 3. November 1990 in einem Fiasko. Bei schweren Ausschreitungen, die sich über mehrere Stunden rund um das Oberliga-Spiel zwischen dem FC Sachsen Leipzig und dem FC Berlin (ehemals BFC Dynamo) hinziehen, verliert die überforderte Polizei die Nerven. Der Einsatzleiter gibt am alten Leutzscher Bahnhof den Befehl zum Gebrauch der Schußwaffe. In der Folge liegen mehrere Schwerverletzte am Boden, eine unbeteiligte Frau in 200 Meter Entfernung erleidet einen Beinschuß. Der 18jährige Mike Polley aber steht nicht mehr auf. Er stirbt durch einen Schuß aus rund 30 Meter Entfernung. 

Die Polizei beruft sich später auf Notwehr, mehrere Zeugen widersprechen. Ermittlungen gegen zehn Volkspolizisten werden eingestellt. Das tragische Ereignis hat auch unmittelbare Auswirkungen: Der DFB sagt das für Mitte November 1990 geplante Vereinigungsländerspiel zwischen den Nationalteams der DDR und der BRD aus Angst vor Solidarisierungaktionen von Hooligans gegen die Polizei kurzfristig ab.

Mit durchschnittlich 4.758 Zuschauer pro Spiel fährt die DDR-Oberliga schließlich am Ende der Saison einen traurigen Negativrekord ein. Hansa Rostock sichert sich derweil eher überraschend sowohl Meistertitel als auch Pokalsieg. Der Einzug in die Bundesliga gelingt auch Dynamo Dresden auf Platz 2. Den Gang in die zweite Liga machen Rot-Weiß Erfurt, Chemie Halle, der Chemnitzer FC, Carl Zeiss Jena, Lok Leipzig und Stahl Brandenburg. Traditionsvereine wie Magdeburg odr der FC Berlin bleiben in den Seilen hängen.

Trotz einer gewissen Anfangseuphorie nach der Eingliederung in die Bundesliga: Die finanziellen Bürden holen in den nächsten Jahren früher oder später jeden der letzten zwölf Oberligateilnehmer ein. Spielertransfers, Sponsoren- und Fernsehgelder überfordern die Verantwortlichen in der neuen Welt. Dazu kommen windige Gestalten wie der hessische Unternehmer Rolf-Jürgen Otto, der als Präsident von Dynamo Dresden ab 1993 drei Millionen Mark veruntreut, wofür er im Gefängnis landet und womit er schlußendlich für den Bundesliga-Lizenzentzug von Dynamo sorgt. Bis 1995 wechseln insgesamt rund 150 Spieler zu westdeutschen Vereinen. Ein Aderlaß, von dem sich der Ost-Fußball bis heute nicht erholt hat. Wenngleich manch einer, wie der frühere DDR-Oberligaspieler Steffen Heidrich, die ständige Opferrolle ablehnt: „Es wird im Osten auch zu viel gejammert“, so der Erzgebirgler in der vergangenen Woche im Kicker.