© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/20 / 07. August 2020

Den Holocaust-Tätern auf der Spur
Philipp Guts Biographie über den Chefankläger beim Nürnberger Prozeß Ben Ferencz
Jan Schad

Das zwanzigste Jahrhundert ist das Jahrhundert der Ideologien, der Massenmorde und großen Kriege. Vor allem in Osteuropa wurden ganze Landstriche mit dem Blut Hunderttausender getränkt. „Bloodlands“ nannte Timothy Snyder diese Weltregion. In ihr wurden die Bewohner zwischen Stalinismus und nationalsozialistischer Rassenpolitik zermalmt: in Massen vor Gruben erschossen, verhungert, oder vergast und im Rauch eines industriellen Vernichtungsvorganges aus der Welt getilgt. Der ideologische, der „totale“ Krieg löste den Unterschied zwischen Kombattanten und Zivilisten auf. Eine Folge war der neuerliche Versuch, die entgrenzte Gewalt durch das Recht zu zähmen. 

Totalitarismus sah Ferencz als Menschheitsproblem

Die vorliegende, von diesem Jahrhundert exemplarisch berichtende Lebensgeschichte handelt davon. Autor Philipp Gut widmet sich in „Jahrhundertzeuge Ben Ferencz“ der Biographie eines engagierten Mannes. Protagonist Ferencz wurde 1920 in Transsilvanien geboren, als Kind orthodoxer Juden. 1921 wanderte die Familie nach New York aus. Obwohl er in „Hells Kitchen“ aufwuchs, glänzte Ferencz in der Schule, durfte das College besuchen und später die elitäre Harvard Law School. Nach Pearl Harbor und dem Jura-Examen meldete sich Ferencz freiwillig. 

Bereits auf dem College hatte sich sein kritischer Geist offenbart. Den marxistischen Welterklärungen linker Kommilitonen konnte er nichts abgewinnen. Und auch in Uniform blieb Ferencz der eigenständige Denker, Idealist und Außenseiter. Als er den Armee-Film „Why We Fight“ („für die Freiheit in Europa“) sah, sinnierte er über die schwarzen GIs, die zu diesem Zeitpunkt noch von Rassentrennung betroffen waren. Viele Kameraden empfand er als gedankenlose Hedonisten, sich selbst zu Schachfiguren degradierend, jedem Führer bereit zu folgen, wenn persönliche Vorteile winken. Den Totalitarismus scheint Ferencz als universelles Menschheitsproblem der entwurzelten Moderne begriffen zu haben, so wie das Unmenschliche ein Verwandter der geistlosen, konformistischen Stumpfheit ist.

Ab 1944 bestand Ferenczs Aufgabe darin, Beweise für deutsche Kriegsverbrechen zu sammeln. Dies wurde zur lebenslangen Obsession. Er sah als einer der ersten GIs die Leichenberge befreiter KZ. 1947 wurde er Chefankläger im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozeß. Hierbei erlebte Ferencz das, was Hannah Arendt 14 Jahre später die „Banalität des Bösen“ nannte: einem bürokratisch organisierten, ideologisch „legitimierten“, „von oben“ befohlenen und moralisch-distanziert ausgeführten „Reinigungsvorgang“, der Menschen zu Ungeziefer herabwürdigt. Manche warfen Arendt Verharmlosung vor. Sie habe das spezifische, dezidiert antijüdische des Mordens verwischt, das später ein Daniel Goldhagen so plastisch als Determinante der deutschen Geschichte zu beweisen suchte. Die wichtigste Voraussetzung für den reibungslosen Ablauf der Massenmorde war aber wohl eher allgemeine moralische Indifferenz, also das Abtrennen der eigenen (Sippen- oder Stammes-)Moral von einer universellen Menschheitsmoral. Ferenczs Kollege entlarvte diese moralische Indifferenz, als er Otto Ohlendorf im Kreuzverhör fragte, ob dieser auch seine eigenen Kinder getötet hätte, wenn es befohlen worden wäre. Ohlendorf schwieg. Eine ehrliche Antwort hätte wohl „Nein“ gelautet. Ferencz kam jedenfalls zu ähnlichen Schlüssen wie Hannah Arendt: „Die Täter waren keine Monster, sondern ganz normale Menschen.“ „Daß sie Massenmörder wurden, habe nichts mit Deutschland oder irgendeiner besonderen Veranlagung der Deutschen zu tun.“ In seinem Buch „Less Than Slaves“ schilderte Ferencz später die herausragende Dimension der NS-Verbrechen, verwies aber auch auf die Indianer, die Schwarzen oder die sowjetischen Gulags. Das Hauptproblem sei eine fehlende juristische Kontrolle, die über ethnische und staatliche Grenzen hinaus wirkt. Die Lösung konnte nur ein Internationales Strafgericht sein. Für dieses Ziel kämpfte Ferencz jahrzehntelang. Die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag betrieb er mit Hochdruck.

Philipp Guts Recherchen werden dem Leser in flüssigem Schreibstil angeboten. Die Sympathie zu seinem Protagonisten ist deutlich spürbar. Es hätte dem verdienten Respekt vor Ferenczs Lebensleistung allerdings keinen Abbruch getan, die Rolle der Nürnberger Prozesse und des Strafgerichtshofes von Den Haag etwas kritischer zu beleuchten. In Den Haag vor Gericht gestellt wurden bislang ausschließlich afrikanische Milizionäre. Die USA hingegen haben Den Haag nicht anerkannt, US-Soldaten können mit militärischen Mitteln befreit werden, sollten sie angeklagt werden. Auch Rußland lehnt Den Haag ab. Im Zweiten Weltkrieg wurden (unter anderem von Ferencz) Lynchmorde an alliierten Piloten behandelt, die teilewiese niemals juristisch geahndet wurden. Ebenso wenig die gezielten Menschenjagden durch alliierte Tiefflieger, die der US-Fliegerheld Chuck Yeager in seiner Autobiographie als gängige Praxis bestätigt. Auch das „Morale Bombing“, das in der „Trenchard Doctrine“ festgelegt wurde, bevor Hitler Thema war, und auch gegen die vietnamesische Zivilbevölkerung Anwendung fand, wurde niemals juristisch bewertet. Ebensowenig die Mordkommandos des „Phoenix-Programms“ ab 1967. 

In Nürnberg saßen Gesandte Stalins auf der Richterbank. Nicht nur Revisionisten, sondern auch NS-Gegner wie Sebastian Haffner haben Nürnberg darum als Recht des Siegers/des Stärkeren kritisiert. Und auch die Ideale Den Haags bleiben Ideale. Leider! Der Lesbarkeit und dem Informationsgehalt des Buches tut dies keinen Abbruch.

Philipp Gut: Jahrhundertzeuge Ben Ferencz. Chefankläger der Nürnberger Prozesse und leidenschaftlicher Kämpfer für Gerechtigkeit. Piper Verlag, München 2020, gebunden, 352 Seiten, Abbildungen, 24 Euro