© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/20 / 14. August 2020

Apokalypse im Land der Zedern
Nach der Katastrophe von Beirut: Der Libanon steht vor totalem Chaos oder Neuanfang
Jürgen Liminski

Beirut brennt immer noch. Aber es sind nicht die Brände nach der Explosion im Hafen, sondern die flammenden Proteste einer Bevölkerung, die nichts mehr zu verlieren hat. Das politische System brennt. Tausende junge Leute gehen auf die Straße, werfen mit Steinen, werden von Polizisten mit Tränengas zurückgetrieben, dringen in Ministerien ein, verlangen den Rücktritt der Regierung.  Niemand weiß, wie hoch die Flammen reichen. Zwei Minister waren bis Sonntag zurückgetreten, am Montag folgten weitere zwei, schließlich der Rest der Regierung. Der alte Premier versprach Neuwahlen. 

Wer kann die Hilfe vor Ort organisieren?

Aber wer soll wo und wen und wie wählen? Sicher ist, daß der Libanon nach der verheerenden Explosion nicht mehr so weiterleben kann wie bisher. Nicht nur der Hafen und rund 80.000 Wohnungen zwei bis drei Kilometer ringsum liegen in Trümmern. Auch das politische System der Nachkriegszeit ist nur noch eine Ruine.

Aber zunächst gilt es einfach nur zu retten und zu überleben. Eine von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron organisierte Video-Geberkonferenz mit einem guten Dutzend Staats- und Regierungschefs, inklusive Donald Trump, brachte 250 Millionen Euro zusammen. Die Europäische Kommission stockte ihre Soforthilfe von 33 auf 60 Millionen Euro auf. Der Internationale Währungsfonds stellte weitere 200 Millionen in Aussicht. 

Aber auch hier: Wer kann und soll die Hilfe vor Ort organisieren? Es ist eine gespenstische Situation. Da ist eine Verwaltung und keiner geht hin, keiner will etwas von ihr wissen. Im Gegenteil, die internationale Gemeinschaft versucht offen, sie zu umgehen. NGOs und das Rote Kreuz sollen die Hilfe kanalisieren. Alle wissen: Wenn die libanesischen Behörden sich darum kümmern, passiert nichts und das Geld verschwindet. 

Selten hat es eine politische Klasse gegeben, die so offen als korrupt, hilflos und unfähig dargestellt wurde. An ihrer Spitze steht Staatspräsident Michel Aoun, ein leicht seniler Mann mit 85 Jahren. Einer internationalen Kommission, die die Explosion im Hafen untersuchen soll, erteilte er indirekt eine Absage. Sie würde die „Wahrheit nur verwässern“. 

Das Gegenteil ist der Fall. Eine libanesische Kommission, vermutlich zusammengesetzt nach dem alten religiösen Proporzprinzip, würde die Spuren verwischen und nach einigen Jahren zu einem Ergebnis kommen, das politisch allen genehm wäre. Nach der geopolitischen Wetterlage kann das nur heißen: Keiner ist schuld, Israel hat den Hafen in die Luft gejagt. 

Ganz so abwegig ist das nicht. Beobachter weisen darauf hin, daß es zwei Explosionen gab. Die erste könnte von einem Raketeneinschlag im Hangar 13 herrühren. Dort lagerte die Hisbollah Waffen und Raketen. Diese erste Explosion wäre der Auslöser der zweiten gewesen, die das Ammoniumnitrat im Hangar 12 entzündet hätte, denn es brauche einen Zünder bzw. eine Explosion, um die Sprengmasse zu aktivieren. Von der Präsenz der 2.750 Tonnen hochexplosiven Sprengstoffs habe, sofern es so gewesen sein sollte, Israel nichts gewußt.

 Die Tatsache, daß Israel sofort großzügig Hilfe angeboten und daß die Hisbollah nicht sofort Israel als Schuldigen ausgemacht und angeklagt hat, spricht nicht gegen diese These. Denn Israel zu beschuldigen käme dem Eingeständnis gleich, daß die Hisbollah Waffen im Hafen von Beirut neben der Unmenge von Sprengstoff gelagert hat. 

Mehr noch: Die Hisbollah müßte auf solch einen Angriff antworten, wenn sie nicht jede Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung, auch bei den Schiiten, verlieren will. Die Reaktion Israels wäre vernichtend. Das will die Hisbollah nicht riskieren. Der See- und Luftraum des südöstlichen Mittelmeers gehört zu den elektronisch bestüberwachten Gebieten zwischen Europa und Nahost. Eine Untersuchung wird herausfinden, ob es einen Raketenangriff gab. Die Schuldfrage allerdings wäre damit nicht geklärt. Sie liegt bei denen, die ein Waffenlager betrieben – neben dem Berg von Ammoniumnitrat.

Das alte Proporzsystem hat sich langst überlebt

Für die Menschen in Beirut ist das einerlei. Sie wissen, daß die politische Klasse bis auf wenige Ausnahmen nicht zu gebrauchen ist. Ihre Forderung: Nicht nur die Regierung soll zurücktreten, sondern auch der Präsident. Denn durch sein Bündnis mit der Hisbollah hat der Maronit Aoun de facto das religiöse Proporzsystem aus dem Gleichgewicht gebracht. Seither, also seit Aouns Wahl von Hisbollahs Gnaden 2016, blockiert die Hisbollah das Land. Nichts geschieht ohne ihre Zustimmung. Wenn die internationale Geberkonferenz Hilfe nur unter der Auflage von Reformen verspricht, dann ist damit auch eine Reform des gesamten politischen Systems gemeint.

 Im Quai d’Orsay in Paris arbeitet man bereits an den Optionen. Wahrscheinlich ist, daß es zu einer verfassungsgebenden Versammlung kommen wird, die die Staatsreform an Haupt und Gliedern unter dem wachsamen Auge der Uno oder einer Staatengruppe (USA, Frankreich/EU, Rußland) erörtern und beschließen wird. 

Diese Versammlung einzuberufen wird Aufgabe der neuen Regierung sein, die aus international anerkannten Persönlichkeiten bestehen soll. Im Gespräch als neuer Premier ist der ehemalige Botschafter des Libanon bei der Uno und Richter des Internationalen Strafgerichtshofs, Nawaf Salam.

Bis es soweit ist, muß die Hilfe organisiert werden für die Opfer der Katastrophe, für die 6.000 Verletzten und 300.000 Obdachlosen. Es fehlen Medikamente, Kleidung, Nahrungsmittel. Immer noch werden unter den Trümmern Tote gefunden, ihre Zahl dürfte die Marke von 200 übersteigen. 

Die Libanesen nennen die Katastrophe „die Apokalypse“. Besonders stark betroffen ist das Wohnviertel Aschrafieh, in dem fast nur Christen wohnen. Unter den Trümmern fand man einen 25jährigen Maroniten, er hielt ein Kreuz in der Hand. Die Hilfsorganisation „Kirche in Not“ berichtet, daß der junge Mann schon oft Gelegenheit hatte, zu Verwandten nach Amerika und Europa auszuwandern. Er habe nicht gewollt, „einer muß die Zedern gießen“, habe er gesagt. 

Die Zeder, das Symbol des Libanon, steht für den Überlebenswillen der jungen Libanesen. Er ist ungebrochen. Sie haben die Straßen geräumt und gehen in kleinen Gruppen in die Häuser, um zu helfen. Das ist das andere Gesicht des Libanon, jenseits der korrupten Elite. Seit dem 17. Oktober vergangenen Jahres haben sie monatelang demonstriert und protestiert, Corona hat den Elan zunächst gebrochen. Jetzt sind sie wieder da. Und sie werden bleiben, bis zum totalen Chaos oder einem Neuanfang.