© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/20 / 14. August 2020

Politisches Menetekel bis heute: „Das Floß der Medusa“
Menschenexperiment infolge Elitenversagens

Einer der „größten Musiktumulte des 20. Jahrhunderts“ führte 1968 zum Scheitern der Uraufführung von Hans Werner Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“. Nicht weil der Konflikt sich am „Neutöner“ Henze entzündete, sondern weil der als „Salonbolschewist“ geltende Komponist sein Opus dem kurz zuvor getöteten „Revolutionär“ Che Guevara gewidmet hatte und es als zeitgemäßen Beitrag zur Widerspiegelung des latenten Klassenkonflikts in westlichen Gesellschaften verstanden wissen wollte. Henze griff ein historisches Ereignis auf,  das für den Literaturwissenschaftler Markus Bauer als politische Metapher bis heute nachwirkt. Im Juli 1816 lief die französische Fregatte La Méduse vor Mauretanien auf eine Sandbank. Während sich Kapitän und Offiziere in Booten bequem an die nahe Küste retteten, trieben 146 auf ein Floß evakuierte Besatzungsmitglieder dreizehn Tage im Atlantik, bevor jene fünfzehn Personen, die das Kannibalismus einschließende Martyrium überlebt hatten, geborgen wurden. Théodore Géricaults (1791–1824) Gemälde „Szene eines Schiffbruchs“ (1819), obwohl es Morde und Menschenfresserei dem Publikum vorenthielt, gestaltete die Irrfahrt doch als Abbild der menschlichen Zivilisation, wie sie in Extremlagen schnell in den steinzeitlichen Kampf ums Dasein kippt. Der Schiffsarzt Jean-Baptiste Henri Savigny, der sich freiwillig auf das Floß begeben hatte, verarbeitete seine Erfahrungen in einer Dissertation, die die Hölle auf See als ein durch das Elitenversagen der Marine-Führung verursachtes grausiges Menschenexperiment deutet, das dank Géricaults Gemälde bis heute zum „politischen Menetekel“ taugt (Zeitschrift für Ideengeschichte, 3/2020). www.z-i-g.de