© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/20 / 14. August 2020

Auf Bindungen angewiesen
Wer ist rechts? Rechte und Linke werden mit zweierlei Maß gemessen / Teil VI der JF-Serie
Karlheinz Weißmann

Der amerikanische Psychologe Jonathan Haidt berichtet von einem aufschlußreichen Experiment. Er hat Probanden, die sich selbst als links einschätzten, und Probanden, die sich selbst als rechts einschätzten, die Aufgabe gestellt, einmal aus der Perspektive des Gegners zu argumentieren. Sie sollten versuchen, so weit wie möglich in die Haut des Anderen zu schlüpfen.

Das Ergebnis war bemerkenswert: Während Rechte im allgemeinen kein Problem damit hatten, zu verstehen, wie Linke denken, obgleich sie deren Auffassungen ablehnen, hatten Linke erhebliche Schwierigkeiten mit dem Wechsel der Sichtweise. Haidt erklärte das, indem er darauf hinwies, daß für einen Linken ein Rechter per se niedere Beweggründe habe – etwa die Verteidigung von Privilegien, persönlichen Egoismus – oder aufgrund von Beschränktheit, Vorurteilen und fehlendem Gerechtigkeitssinn so sei, wie er sei. Was auch bedeutet, daß ein Rechter für einen Linken im Grunde keine Existenzberechtigung habe, es sollte ihn besser nicht geben, damit die Welt ein besserer Ort werden kann.

Für Haidt spielt allerdings auch eine Rolle, daß diese Auffassung heute derart verbreitet ist, und er führt das auf die Bedeutung der Universitäten für die Meinungsbildung zurück. Deren Dozenten stehen in den USA mehrheitlich links. Ein keineswegs auf die Vereinigten Staaten beschränktes Phänomen. Nach einer neueren Untersuchung der Lehrkörper britischer Hochschulen sympathisieren dort etwa 75 Prozent der Dozenten mit der Linken, weniger als zwanzig Prozent mit der Rechten, an den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachbereichen sind es weniger als sieben Prozent. Entsprechende Daten dürften sich auch in allen anderen Bereichen des Bildungs- und Erziehungswesens, der Kirchen, der Medien und erheblicher Teile der öffentlichen Verwaltung in den westlichen Ländern nachweisen lassen.

Ausschluß rechter Postionen aus der öffentlichen Debatte

Die Linksorientierung der „Sinnvermittler“ (Helmut Schelsky) fand ihren sichtbaren Ausdruck zuletzt in Political Correctness und Cancel Culture, dem „no platforming“, das zum Ausschluß von Personen und Positionen aus der öffentlichen Debatte führt, und der schleichenden Machtübernahme von Zensur wie Selbstzensur. Begründet wird das im Kern mit dem Kampf „gegen Rechts“, dessen Erfolge längst nicht mehr auf akademische Kreise beschränkt sind. In einer Befragung des Instituts für Demoskopie verknüpfte eine Mehrheit der Bevölkerung den Terminus „rechts“ mit Begriffen wie „radikal“ (71 Prozent), „gewalttätig“ (67 Prozent), „bedrohlich“ (63 Prozent) oder „dumm“ (50 Prozent). Kurz und knapp: Gemeinhin gilt „Rechtes grundsätzlich als schlecht, Linkes aber als im Prinzip gut“ (Werner Patzelt).

Mittlerweile wird schon die Beschäftigung mit der Rechten als historischer oder politischer Erscheinung als problematisch angesehen. Selbst ein Linker kam zu der Einschätzung, daß die meisten „die Rechte nicht untersuchen“ wollen, „sie wollen sie verachten oder verdrängen“ (Peter Glotz); und ein Mann der Mitte meinte, es sei „dem Verdikt ‘rechts’ eine besondere Schärfe eigen, denn hinter ihm lauert immer ein Superlativ, nämlich das Verdikt ‘faschistisch’, also verbrecherisch“ (Dieter E. Zimmer).

Zur Erklärung kann man auf Ernst Jüngers Diktum hinweisen, es habe die „Welttendenz seit langem eine Linksrichtung, die seit Generationen wie ein Golfstrom die Sympathien bestimmt“. Oder man kommt darauf, daß schon im Frankreich der Dritten Republik keine Partei mehr als „Rechte“ auftreten wollte; das letzte Carré der Royalisten trat 1924 unter dieser Bezeichnung zu Wahlen an und blieb erfolglos. Danach waren die Plätze auf dem rechten Flügel der Kammer unbesetzt, so daß sich die neugewählten Sozialisten gezwungen sahen, dort Platz zu nehmen. Es griff seitdem eine „Linksmystik“ (Peter Richard Rohden) um sich, die dazu führte, daß Begriffe wie „demokratisch“ oder „radikal“ oder „sozialistisch“ keinen Aussagewert mehr hatten, weil jeder avancé – „fortgeschritten“ sein wollte.

Trotzdem ist festzuhalten, daß das Negativ-Image der Rechten weder seit unvordenklicher Zeit besteht, noch damit zu erklären ist, daß das NS-Regime den Begriff „rechts“ durch seine Untaten „verbraucht“ (Jürgen Falter) hat. Denn erst die Kulturrevolution der 1960er und 1970er Jahre konnte die ideologischen Parameter so verschieben, daß die Assoziationskette Rechts – nazistisch – Hitler – Auschwitz im Bewußtsein des Durchschnittsbürgers sicher verankert wurde, während man die Assoziationskette Links – sozialistisch – Stalin – Gulag erfolgreich unter Tabu gestellt hat. Nur deshalb erscheinen auch die Massenverbrechen des NS-Regimes – oder gleich: der Deutschen – als historisches Menetekel, während die des Sowjetsystems – niemals: der Russen – unter den Tisch fallen. Es gilt solches Auflisten als unfein, bleibt aber von Fall zu Fall notwendig, um sich über die Kriterien klar zu werden, nach denen geurteilt werden sollte.

Wenn das nicht geschieht, dann weil Rechte und Linke mit zweierlei Maß gemessen werden und die Linke alles tut, daß es dabei bleibt. Die Rede ist hier nicht von der antifaschistischen Pamphletliteratur, die Bibliotheken füllt, mit der aber eine Auseinandersetzung kaum lohnt.

Anders liegt der Fall bei einem so einflußreichen und verbreiteten Buch wie „Destra e Sinistra“ („Rechts und Links“) des Italieners Norberto Bobbio, das schon kurz nach seinem Erscheinen 1994 ins Englische, Französische, Deutsche, Spanische und Portugiesische übersetzt wurde und bis heute in mehreren Sprachen lieferbar ist. Der Hauptgrund dürfte in der Entschiedenheit liegen, mit der der bekennende Linke Bobbio die Linke legitimiert und die Rechte delegitimiert. Die Linke ist nach Bobbio die Avantgarde jener „großartigen historischen Bewegung“, die das „Problem der Ungleichheit unter den Menschen und den Völkern unverändert in seiner Schwere und seiner Unerträglichkeit“ bekämpft und damit jene „Zivilisierung“ vorantreibt, die nicht beim Menschen stehenbleiben, sondern das egalitäre Prinzip zuletzt auch auf die Tierwelt ausweiten wird.

Jede Weltanschauung kann zu Hybris führen

Es überrascht kaum, daß Bobbio diesen Fortschritt für zwangsläufig hält und die Rechte seiner Meinung nach kaum einer genaueren Betrachtung wert ist. Wenigstens hält er den Konservativen ihre Beschränktheit zugute, aber im Kern bleibt unverzeihlich, daß sie die Macht der Mächtigen decken und so die Ungleichheit schützen. Was nach Bobbio auch das Gefälle vom Konservatismus in Richtung auf Faschismus und Nationalsozialismus erklärt. Die werden als Exzeßformen der Rechten keineswegs dem Bolschewismus gegenübergestellt. Denn das Äußerste, was ein Linker werden kann, ist „Jakobiner“, und deren terroristisches Regime rechnet Bobbio zwar zu den „autoritären“ (seine Sympathie gehörte dem, was er unverfänglich „Liberalsozialismus“ nannte), spricht ihm aber eine gewisse geschichtliche Notwendigkeit zu.

Die Vorgehensweise Bobbios ist nicht so harmlos, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn ihr liegt letztlich jener Determinismus zugrunde, der für die Linke typisch und die tiefste Ursache ihrer Unduldsamkeit ist. Für sie hat die Rechte keinen Daseinsanspruch. Bestenfalls gilt sie als Anachronismus, sollte aber gefälligst keinen Widerstand gegen das eigene Verschwinden leisten. Eine Sicht, die bezeichnenderweise im diametralen Gegensatz zu der eines Mannes der Rechten wie Roger Scruton steht.

Scruton hat in seinem Buch „How to be a Conservative“ vor der Klärung der Frage, wie man denn ein Konservativer sein könne, zuerst einmal die (Teil-)Wahrheit des Nationalismus, Sozialismus, Kapitalismus, Liberalismus, Multikulturalismus, Ökologismus und Internationalismus behandelt. Als Bilanz ergibt sich, daß erst das Widerspiel der politischen Kräfte eine konstruktive Entwicklung möglich macht.

Das heißt etwa, daß es ohne die Freiheitsforderung der Liberalen dabei geblieben wäre, daß jeder hochgeborene Lump fraglos seine Privilegien genösse. Und ohne die Entschlossenheit, mit der die Arbeiterbewegung die „Magenfrage“ stellte, hätte sich niemand um die hungernden Massen gekümmert. Das zuzugeben bedeutet aber gerade nicht, auch den darüberhinausgehenden Anspruch der Linken zu akzeptieren, vor allem wenn er mit der Behauptung verknüpft ist, das Ziel der Geschichte zu kennen und als deren „Agent“ (Hanno Kesting) zu handeln.

Für Scruton ist klar, daß der Mensch keinen direkten Zugriff auf die ganze Wahrheit hat; wie es im Ersten Brief des Paulus an die Korinther heißt: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild“ und „Jetzt erkenne ich stückweise“ (13.13). Damit ist hinreichend erklärt, warum jede Weltanschauung – selbstverständlich auch die der Rechten – ihre Gefährdung in sich trägt, zu Hybris und Bösartigkeit führen kann. Was nicht nur die Hekatomben des roten wie des braunen Holocaust, sondern auch die Gefahr erklärt, die aus der heutigen Anomie erwächst.

Erst vor diesem Hintergrund versteht man, daß der Rechte aus seiner Einsicht in die Begrenztheit der intellektuellen wie der moralischen Möglichkeiten des Menschen nicht den relativistischen Kurzschluß zieht. Er trifft eine Entscheidung. Deren Überlegenheit beruht darauf, daß sie ihren Ausgangspunkt bei der Natur des Menschen nimmt und deren unwandelbaren Charakter anerkennt, zu dem nicht nur das Bedürfnis nach Freiheit, sondern mehr noch das nach Bindung gehört, die der einzelne in seiner konkreten Gemeinschaft und den Institutionen seiner Polis findet. Wir sind „auf Heimat angewiesene Wesen“, könnte man eine Formulierung Scrutons übersetzen, und wer das verkenne und im Namen irgendeines abstrakten Ideals – der Menschheitsrepublik, der allgemeinen Gleichheit etwa – zu zerstören suche, sei eben kein Menschenfreund, sondern ein Menschenfeind. Was auch bedeutet, daß ihm entgegengetreten werden muß.

Die rechte Toleranz endet an diesem Punkt. Sie geht ansonsten sehr weit. Was damit zu tun hat, daß sie in dem Wissen um unsere Sterblichkeit wurzelt und darin, daß der Herrgott einen großen Tiergarten hat. Ihre praktische Umsetzung kommt angesichts der heutigen Machtverhältnisse – Toleranz setzt Macht voraus – rasch an ihre Grenzen, was aber nicht bedeutet, daß die Dinge so bleiben wie sie sind, und keinesfalls hindern soll, auf den guten Rat eines rechten Gesinnungsfreundes zu hören: „Cool bleiben“ (Roger Köppel).