© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/20 / 14. August 2020

Nichts zählt mehr als die Familie
Falsch abgebogen: In ihrem Kinofilm „Wege des Lebens – The Roads Not Taken“ sinniert Sally Potter über Lebensentscheidungen und ihre Folgen
Dietmar Mehrens

Ein Mann liegt apathisch auf dem Bett. Ein Zug rattert am Fenster vorbei. Das Telefon klingelt. Der Mann reagiert nicht. Der Anfang von „Wege des Lebens“ kommt dem Zuschauer bekannt vor: Schon in dem mit einem Oscar preisgekrönten Drama „Das Meer in mir“ (2004) glänzte Hauptdarsteller Javier Bardem als ans Bett gefesselter Langzeitpatient. Der Film erzählte vom Leiden eines Querschnittsgelähmten, seinem poetisch untermalten Abschied vom Leben.

Jetzt konnte der Filmtitan aus Gran Canaria nahtlos daran anknüpfen: Der von Bardem verkörperte Dichter Leo, der tragische Held in Sally Potters „Wege des Lebens“, ist zwar nicht körperlich gelähmt, doch auch er ist ein Leidender, gleichsam komplementär zum dichtenden Seemann Ramón aus „Das Meer in mir“. Denn der war geistig rege, konnte sich nur nicht bewegen. Bei Leo ist es genau umgekehrt.

Das Puzzle des Lebens auf drei Erzählebenen

„You okay?“ („Alles in Ordnung mit dir?“) ist der Satz, der in der englischen Originalfassung mit dem Titel „The Roads Not Taken“ am häufigsten zu hören ist. Nein, nichts ist okay mit Leo, dem Adressaten der höflichen Nachfrage, absolut gar nichts: Eine schnell fortschreitende Demenz lähmt seinen Geist. Die Frau, die vergeblich versucht hat, Leo telefonisch zu erreichen, ist Molly (Elle Fanning), seine besorgte Tochter. Das Besondere dabei: Leo ist ihr nie ein richtiger Vater gewesen, sondern hat sie und ihre Mutter im Stich gelassen, als Molly noch klein war. „Man bringt gern Opfer, wenn man Schriftsteller ist“, lautet Leos Erklärung dafür. Aber vielleicht ist er auf seinem Lebensweg auch einfach nur falsch abgebogen.

Auf drei Ebenen schlägt Potter (auch Drehbuch, Musik und Schnitt) das Buch seines Lebens auf, zeigt Scharnierstellen der Biographie, an denen der Künstler sich anders hätte entscheiden können, als er es getan hat: Wir sehen ihn an der Seite seiner ersten großen Liebe Dolores (Salma Hayek), die durch einen tragischen Unfall auf eine harte Bewährungsprobe gestellt wird, und das Ringen der beiden, aus der dadurch ausgelösten Existenzkrise einen Ausweg zu finden; wir sehen ihn an einem entlegenen griechischen Küstenort, wohin er sich zurückgezogen hat, um in Ruhe schreiben zu können, allerdings auf Kosten seiner kleinen Tochter und seiner zweiten großen Liebe (Laura Linney); und wir sehen ihn als hilflosen Demenzkranken, dem ausgerechnet die von ihm im Stich gelassene Tochter bedingungslos den Rücken stärkt, obwohl sie durch die Rund-um-die-Uhr-Betreuung ihres kranken Vaters die eigene Karriere aufs Spiel setzt.

Inspiration für die 70jährige Regisseurin war die frühe Demenzerkrankung ihres eigenen Bruders Nic, der vor acht Jahren verstarb. „Die Erfahrung ließ mich hinterfragen“, so Potter, „was wirklich mit jemandem geschieht, der durch Depression, Schizophrenie, Autismus oder Demenz mehr und mehr zu verschwinden scheint.“ Sie habe festgestellt, daß sich ihre Wahrnehmung in vielerlei Hinsicht völlig verändert hat: „Was ist geistige Gesundheit eigentlich? Welchen Stellenwert haben körperliche Fähigkeiten und persönliche Eigenschaften? Was bedeutet es, ein vollwertiges menschliches Wesen zu sein?“, so die Filmemacherin, die am veränderten Verhalten ihres jüngeren Bruders sogar eine „poetische“ Seite entdeckte. So entstand die Idee zu einer Hauptfigur, deren Erkrankung der von Nic Potter in manchem ähnelt. Obwohl auch Leo schon in relativ jungen Jahren betroffen ist, stellt Potter jedoch klar, daß der Film kein Porträt von Nic darstellt. Neben der großen Anzahl von Menschen, die von psychischen Störungen betroffen sind, motivierte sie noch ein anderer Aspekt zu ihrem Film: die Unsicherheit, die jeder Mensch im Hinblick auf vergangene Entscheidungen im Leben empfindet oder, einfacher gesagt, die Frage: „Wo wäre ich heute, wenn ich einen anderen Weg eingeschlagen hätte?“

Die Regisseurin läßt sich viel Zeit bei der Beobachtung ihres tragischen Helden auf den drei Erzählebenen, und erst nach und nach setzt sich aus den minutiös fotografierten Momentaufnahmen das Puzzle eines Lebens zusammen, das zwischen Hingabe und Rückzug changiert. Das fordert dem Zuschauer einiges an Langmut ab, zumal die Regisseurin lieber auf die leisen Töne setzt als auf dramatische Paukenschläge. Doch das Dranbleiben lohnt sich: Potter gelingt eine melancholische Ode an das Leben voller berührender Momente und ohne aufdringliche Moral. Ganz dezent bricht sich die Einsicht Bahn, daß am Ende nichts im Leben mehr zählt als eine eigene Familie. Das schwächelnde Kraftpaket Javier Bardem trägt den Film durch seine unwiderstehliche Präsenz bis ans Ziel, wo schließlich ein kleiner Hoffnungsschimmer aufblinkt.