© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/20 / 14. August 2020

Ein Wunder war schon nötig
Polens gescheiterter Angriff auf Sowjetrußland und die Abwendung einer Niederlage vor den Toren Warschaus 1920
Stefan Scheil

Wir werden Polen auf eine Ebene mit den größten Mächten der Welt heben.“ Solche Absichten verkündete Polens starker Mann Józef Pilsudski im Januar 1920, und er stand mit diesem Vorhaben in Polen keineswegs allein. Wenn Polen nach hundertzwanzigjähriger Unterbrechung wieder als eigener Staat auf der Landkarte erscheinen würde, dann als Imperium. Mochte das einfache Volk vielleicht anders denken, in den polnischen Eilten der verschiedenen politischen Farben herrschte darüber durchaus Konsens. „Halb Europa soll einst polnisch gewesen sein und jetzt wieder polnisch werden“, so faßte der entnervte italienische Diplomat Sforza bei den Friedensverhandlungen in Versailles die Vorstellungswelt der polnischen Vertreter vor Ort zusammen.

Ein solches polnisches Imperium konnte nicht herausverhandelt werden. Es mußten also die Waffen sprechen, und in diesem Zusammenhang blickte Pilsudski, dessen Wurzeln als Sproß eines polnischen Adligen in der polnischen Diaspora östlich von Wilna lagen, nach Osten. Die in Moskau regierenden Sowjets hatten eigentlich kein schlechtes Angebot für eine russisch-polnische Grenze abgegeben. Teile der Ukraine sollten polnisch bleiben, Polen sollte „freie Hand“ in Litauen bekommen und eine Volksabstimmung in Weißrußland stellte auch den Erwerb dieser Region in Aussicht. Allerdings hatte Pilsudski zudem noch Forderungen auf Teile Lettlands erhoben und die ganze Ukraine für Polen reklamiert. 

Die polnische Antwort fiel deshalb negativ aus. Getreu dem Vorhaben, die unmittelbaren Nachkriegswirren des Ersten Weltkriegs zur maximalen Hebung der polnischen Größe zu nutzen, mußte eine Auseinandersetzung darüber mit Rußland eigentlich jetzt gesucht werden. Am 25. April 1920 begann also eine große polnische Offensive, die bereits am 8. Mai zur Eroberung Kiews führte. Die Begrüßung durch die Bevölkerung dort sei überaus freundlich gewesen, notierten ausländische Beobachter. Auch die nationale Einheit Polens war unter dem Eindruck des Erfolgs gegeben wie selten in den letzten Jahren, so daß sich für den Moment ein Erfolg von Pilsudskis Ostkonzeption abzeichnete, 

Bereits Anfang Juni folgte jedoch die sowjetische Gegenoffensive, die von der Roten Armee nun mit umfangreicher Unterstützung zaristischer Offiziere und unter der Parole der Rettung des Vaterlands geführt werden konnte. Insofern es aber auf polnischer Seite darüber hinausreichende Ambitionen gab, auch auf der Gegenseite fehlten sie nicht. In einem Brief an Lenin vom 12. Juni 1920 erörterte Josef Stalin bereits die Problematik der künftigen Außenbeziehungen zwischen der Sowjetunion und „Sowjetpolen“, „Sowjetungarn“ und „Sowjetdeutschland“. 

Solche Entwicklungen konnten die Westmächte nun ihrerseits gerade gar nicht gebrauchen. Im Juli 1920 sahen sich die polnischen Delegierten auf der internationalen Konferenz im belgischen Spa, die eigentlich nur die Höhe von deutschen Entschädigungszahlungen festlegen sollte, scharfer Kritik für die Politik ihrer Regierung ausgesetzt. Die Republik Polen hatte sich international isoliert.

Wenn die sowjetische Offensive tatsächlich völlig erfolgreich verlaufen sollte, würde Deutschland als Zahler genauso ausfallen wie Rußland und die Versailler Ordnung vollständig in Frage stehen. In jedem Fall konnte Deutschland in der gegenwärtigen Situation theoretisch Maßnahmen ergreifen, um eine Revisionspolitik gegenüber Polen zu betreiben. Militärische Mittel, reguläre wie irreguläre, standen dafür noch zur Verfügung. Polens Existenz war in diesem Szenario unmittelbar gefährdet, zumal im Juni 1920 die deutschen Reichstagswahlen zu einer Abwahl der „Weimarer Koalition“ geführt hatten. Liberale, Sozialdemokraten und das Zentrum hatten ihre gemeinsame Mehrheit verloren. Die Revolutionskonstellation der Jahre 1918/19 war damit Geschichte. Was dies für die deutsche Außenpolitik bedeutete, ließ sich noch für niemanden absehen. 

Strategische Fehler der sowjetischen Militärführer 

In ihrer politischen Isolation mußten die polnischen Vertreter in Spa und andernorts erleben, daß ihnen die gewünschte direkte Hilfe in Form von Waffen, Geld und militärischer Unterstützung weitgehend verweigert wurde. Frankreich schickte immerhin Militärberater, Großbritannien nur seinen Berliner Botschafter Edgar Lord d’Abernon, um Einfluß auf polnische Regierungsentscheidungen nehmen zu können. In Danzig streikten die deutschen Hafenarbeiter und blockierten Munitionslieferungen nach Polen. Was den letztlichen Kriegsverlauf anging, so mußte unter diesen Umständen schließlich ein Wunder her. Das „Wunder an der Weichsel“, also die Niederlage der fast schon in Polens Hauptstadt Warschau eingedrungenen Roten Armee, war auf gute Aufklärungsarbeit der polnischen Seite, französische Unterstützung und inneren Zwist und fehlende Abstimmung zwischen den sowjetischen Generalen Semjon Budjonny und Michail Tuchatschewski zurückzuführen. Katastophale strategische Fehlentscheidungen des obersten Politkommissars der sowjetischen Südwestfront, Josef Stalin, verschlimmerten das Chaos. „Wenn Stalin und der Analphabet Budjonny in Galizien nicht ihren eigenen Krieg geführt hätten, hätte die Rote Armee nicht die Niederlage erlitten, die uns zwang, den Frieden von Riga zu unterzeichnen“, beurteilte Leo Trotzki als Oberbefehlshaber der Roten Armee die Lage. 

Polen rettete sich danach im März 1921 durch französische Unterstützung in diesen Frieden von Riga, der lediglich Teile der Ukraine und Weißrußlands bei der polnischen Republik beließ. Dies genügte den eigenen Ansprüchen nicht. Die Grenzziehungen im östlichen Mitteleuropa blieben aus Warschauer Sicht überall vorläufig, und der Anspruch, die Weltbühne auf Augenhöhe zu betreten.