© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/20 / 21. August 2020

Genug ist genug
Aufruhr in Weißrußland: Nach Wahlbetrug und Gewalt gegen friedliche Bürger fordern Menschen massenhaft Neuwahlen
Christian Rudolf / Curd-Torsten Weick

Es sind etwa hundert handverlesene Arbeiter des Minsker Staatsunternehmens, vor denen der weißrussische Machthaber Alexander Lukaschenko am Montag vormittag dieser Woche spricht. Auf das Gelände der Minsker Fabrik für Rad­schlepper (MZTK), deren an die 5.000 Mitarbeiter in Streik getreten sind, ließ die Betriebsleitung nur solche vor, die als zuverlässig im politischen Sinne gelten. Diejenigen, die mit einem weißen Armbändchen gesehen wurden, wurden weggeschickt. Es ist in diesen Tagen des Aufstands das Erkennungszeichen der Opposition gegen den Staatschef. Per Hubschrauber hatte sich der Machthaber einfliegen lassen, um wie am Sonntag vor dem Regierungssitz im Stadtzentrum vor bestellten Claqueuren für sich Propaganda zu machen.

Der Auftritt mißlingt. Sogar die, die als treu ergeben galten, machen ihrer Wut lautstark Luft und buhen den mutmaßlichen Mehrfach-Wahlfälscher aus. Lukaschenka, der sich im Staatsfernsehen schon selbst als „den letzten und einzigen Diktator in Europa“ bezeichnet hat, steht auf einem Sattelschlepper. Er schimpft, bellt, droht, ballt die Faust, duzt die Anwesenden durchgängig. Erst versucht er, die Arbeiter einzufangen – „Ihr habt mich immer unterstützt“, was mit vielfachen Nein-Rufen quittiert wird – dann wirft er ihnen „Verrat“ vor und macht klar, daß es keine Zugeständnisse geben wird: „Wir haben schon Wahlen gehabt! Solange ihr mich nicht erschlagt, bleibe ich!“

Das Ausmaß der staatlichen Gewalt in den Tagen nach der Präsidentschaftswahl vom 9. August leugnet er. Einige Arbeiter schütteln den Kopf, es gibt Zwischenrufe. Diejenigen, die jüngst im berüchtigten Gefängnis Okrestina in Minsk eingesperrt wurden, säßen dort zu Recht, behauptet Lukaschenko. Die Menge ruft „Buh!“ und „Schande, Schande! Schande!“ Der 65 Jahre alte Hühne ergreift wieder das Wort. Demagogisch spielt er mit den Zuhörern, bringt sie erst kurz zum Schmunzeln, erklärt dann die knüppelschlagenden Sicherheitskräfte zu Opfern angeblicher Demonstrantengewalt. „Ihr könnt ruhig rufen ‘Geh’“! Ein Arbeiter schreit: „Geben Sie uns unsere Stimmen zurück!“ Daraufhin stimmen alle ein rhythmisches „Uchodi! Uchodi!“ an – russisch für: Geh weg, geh weg! Lukaschenko verläßt die Bühne.

Dann fangen Kameras eine bezeichnende Szene ein. Auf dem Gang zum Hubschrauber schreit aus einer Gruppe ein Mann ihm zu: „Erschieß dich, Offizier!“ Umringt von seinen Personenschützern geht der Staatschef auf die Männer zu, raunzt den mutmaßlichen Rufer an, droht: „Keine Sorge, ich werde Sie nicht schlagen. Das ist nicht in meinem Interesse.“ Dann, ganz nahe: „Doch wenn einer hier was provozieren will, lösen wir das grausam. Ich bin hier allein, und ihr viele.“ Hat der Noch-Präsident Angst? Der angesprochene Arbeiter filmt den Staatschef mit dem Smartphone. Lukaschenko bellt ihn an: „Das Telefon runter!“ Dann endet der öffentlich gewordene Mitschnitt.

Wie tags darauf auf dem Telegram-Kanal „Nexta“ vermeldet wird, soll der Arbeiter mit dem Smartphone, Andrej Sudam, kurz darauf verhaftet worden sein.

Staatsfernsehen berichtet von den Demonstrationen

Wie der Machthaber mit mißliebigen Bürgern umzuspringen pflegt, belegen auch Tonaufnahmen, die vergangene Woche an der Gefängnismauer von Okrestina entstanden waren. Man hört das unaufhörliche dumpfe Klatschen von offenbar Gummiknüppeln und laute Schmerzensschreie und Stöhnen der Gefangenen. Smartphone-Aufnahmen dokumentieren die Vorgänge auf den hoch umzäunten Höfen von Minsker Polizeistationen. Dutzende Männer liegen gefesselt neben- und übereinander, Beamte der Omon-Sondereinheiten schlagen und treten die Inhaftierten brutal, beleidigen sie in einem fort. Ein Video zeigt, wie Omon-Leute eine halbnackte Frau gegen die Hofmauer drücken und grob an ihren Oberkörper greifen.

„Ich kam am späten Abend der Wahlen aus einer Bar und war auf dem Nachhauseweg“, berichtet Gleb Sch. der JUNGEN FREIHEIT. Plötzlich hielt ein Kleintransporter neben dem 27 Jahre alten Programmierer aus Minsk. Omon-Männer sprangen heraus, traktierten ihn mit Elektroschockern, packten und warfen ihn in den Wagen. Unter Schlägen luden sie ihn später um in einen Zellenwagen. „Nach endloser Fahrt wurden wir nachts ausgeladen.“ Die Hände auf dem Rücken gefesselt, traktierten die Spezialkräfte sie heftig mit Schlagstöcken. Gleb weiß nicht, wo er eigentlich ist. „Später, im Gebäude, müssen wir durch Gänge. An jeder Ecke stand ein Omon-Mann und schlug mir mit dem Schlagstock auf die Knie.“ Beim Verhör behandeln die „Omonowzy“ diejenigen, die nicht aus Minsk stammen, besonders grausam, schlagen sie speziell auf die Nieren. „Jeder mußte sein Telefon öffnen.“ Wer den Code nicht sagen wollte, wurde so lange zusammengeschlagen, bis er mürbe war. Tage später im Gefängnis von Zhodino werden junge Männer aus Okrestina zu ihnen in die Zelle verlegt. Sie weisen Knochenbrüche an Armen, Händen und Fingern auf.

Der Staat im Osten Europas, der keine Regierungswechsel kennt, ist im größten Aufruhr seiner jüngeren Geschichte. Am vergangenen Sonntag versammelten sich in Minsk wohl mehr als 100.000 Menschen. Beobachter geben die Zahl derjenigen, die am Sonntag den Rücktritt des Machthabers forderten, mit mindestens einer halben Million an. Sie rufen „Freiheit!“ und „Es lebe Belarus!“ Nervös machen Lukaschenko die landesweiten Streiks in Hunderten Betrieben. Die 20.000 Arbeiter des Kali-Giganten Belaruskali traten genauso in den Ausstand wie die Beschäftigten des Minsker Traktorenwerks und vieler weiterer Automobil- und Zulieferbetriebe. Die Arbeiter der Zuckerfabrik in Slutzk legten die Arbeit nieder. Klinikpersonal solidarisiert sich.

Das staatliche Regionalfernsehen „Grodno+“ übertrug am Montag direkt von der örtlichen Demonstration. Die Forderungen der Versammelten waren dort wie überall im Land die gleichen: Rücktritt des Usurpators, freie Wahlen, Gerichtsverfahren für die Verantwortlichen von Gewalt und Folter und die Anerkennung von Swjatlana Zichanouskaja als Übergangspräsidentin. Zichanouskaja, die anstelle ihres verhafteten Mannes kandidiert hatte, war nach eigenen Worten von Beamten des weißrussischen KGB gezwungen worden, nach Litauen auszureisen.

Daß auch der Hauptfernsehsender BT mit seinem weithin verhaßten Propagandaprogramm erst über die Demonstrationen berichtete und seitdem bestreikt wird, beunruhigt das Regime. Seit Montag ist die Zentrale in Minsk von starken Omon-Kräften besetzt, ebenso von Soldaten ohne Hoheitsabzeichen.

Wie verhält sich das Ausland in dieser innenpolitischen Krise, deren Ausgang nicht seriös vorhergesagt werden kann? Moskau hält sich nach außen diplomatisch zurück. Präsident Wladimir Putin bestätigte am Sonntag in einem Telefonat mit Lukaschenko die Bereitschaft Moskaus, bei der „Lösung von Problemen auf der Grundlage des Vertrags über die Schaffung des Unionsstaats und im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit Hilfe zu leisten“, teilte der Pressedienst des Kremls mit. Sie einigten sich „auch angesichts des äußeren Drucks“ auf Minsk auf weitere regelmäßige Kontakte und bekräftigten ihr Engagement für die „Stärkung der Beziehungen“ der „brüderlichen Nationen Rußland und Weißrußland“.

Sowohl Moskau als auch die EU warnen vor Einmischung

Im Gespräch mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel betonte Putin am Dienstag, daß ausländische Versuche, sich in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen, inakzeptabel seien. Merkel betonte ihrerseits, daß die weißrussischen Behörden den Einsatz von Gewalt gegen friedliche Demonstranten aufgeben, die politischen Gefangenen unverzüglich freilassen und in einen nationalen Dialog mit der Opposition und der Gesellschaft treten müßten, um die Krise zu überwinden.

Parallel dazu hatte der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, erklärt, daß die EU die offiziellen Ergebnisse der weißrussischen Präsidentschaftswahlen nicht akzeptieren werde. „Die Arbeit beginnt mit der Sanktionierung derjenigen, die für Gewalt und Fälschungen verantwortlich sind“, betonte der Spanier.

Bereits vor der Wahl hatte Brüssel bei einem Ad-hoc-Treffen hoher Beamter aus der EU und Weißrußland am 23. Juli seine „Besorgnis über die mangelnde Einhaltung der Grundfreiheiten in Belarus und den scheinbar willkürlichen Ausschluß von Kandidaten vom Wahlprozeß“ zum Ausdruck gebracht.

Nach der Wahl am 9. August erhöhte die EU den Druck. „Wir unterstützen natürlich die Souveränität und Unabhängigkeit von Weißrußland, aber wir können unsere Beziehungen nicht ausbauen, indem wir eklatante Verletzungen der Menschenrechte und politischen Freiheiten ignorieren“, unterstrich Borrell. „Die EU ist eine Wertegemeinschaft.“

Bei ihrem Treffen Ende der vergangenen Woche unterstützten die EU-Außenminister diesen Kurs. Die Minister betonten erneut, daß die Wahlen weder frei noch fair gewesen seien. Die Europäische Union sei der Auffassung, daß die Wahlergebnisse gefälscht seien, und akzeptiere daher die von der Zentralen Wahlkommission vorgelegten Wahlergebnisse nicht. Die Minister kamen überein, bei ihrem bevorstehenden informellen Treffen Ende August die Beziehungen zwischen der EU und Minsk zu überprüfen.

Überraschenderweise sprang EU-Ratschef Charles Michel der Sichtweise Moskaus bei. „Es sollte keine Einmischung von außen geben“, schrieb der Belgier am Montag in seiner Einladung für einen kurzfristig angesetzten EU-Videogipfel. Die Menschen in Weißrußland hätten das Recht, selbst über ihre Zukunft zu bestimmen.