© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/20 / 21. August 2020

„Der Modernismus ist eine Ideologie“
Der Luxemburger Léon Krier ist das Enfant terrible der internationalen Architektenschaft. Unermüdlich kämpft der vielleicht bedeutendste Vertreter der neuen klassischen Architektur gegen die „Lüge“ an, es gebe keine Alternative zum modernistischen Stil im zeitgenössischen Bauen
Moritz Schwarz

Herr Krier, ist die Architektur in Deutschland nach 1945 tatsächlich von einem Buß- und Bestrafungsimpetus beseelt? 

Léon Krier: Als im Jahre 1993 Wilhelm von Boddiens Initiative zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses vom Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen von der CDU und FDP-Bundesbauministerin Irmgard Schwätzer blockiert wurden, schrieb ich amüsiert-verzweifelt in einem Artikel in der Welt, daß ein Wiederaufbau des Schlüterschen Schlosses für Berlin, ja für Deutschland, tatsächlich eine „nationale Schande“ bedeutet hätte. Denn mit dieser einen Geste würden vierzig Jahre Wiederaufbau-Philosophie und ihr anmaßendes Selbstverständnis einer moralisch überlegenen Legitimität radikal in Frage gestellt. 

Inwiefern das? 

Krier: Nun, nach ihrem Credo dürfen zwar Bauten unserer großen Vorbilder Hans Scharoun, Mies van der Rohe und Le Corbusier original und konservativ restauriert sowie wiederaufgebaut, ja sogar Ungebautes posthum errichtet werden – Schlüter aber, nein, das geht zu weit! Schließlich habe Deutschland kollektiv gesündigt und solle weiterhin kollektiv auch architektonisch Buße tun. Denn die brutale Häßlichkeit Zentral-Berlins in Ost und West ist nicht etwa ein Zeichen geistiger Armut und Unvermögens. Nein, im Gegenteil, sie ist ein in Baumaterial erhärtetes Symbol höchster intellektueller Anstrengung: von kritisch-büßender tiefgründiger Selbstverneinung! Unser Pluralismus beweist tagtäglich, daß wir zu allem fähig und bereit sind – doch Schlüter wiederaufbauen, nein, um Gottes Willen! Aber Gott sei dank hat Herr von Boddien dann doch gewonnen. Die Errichtung der beeindruckenden Schloßattrappe in Originalgröße im darauffolgenden Jahr 1994 hat dann doch entscheidend die Herzen gewonnen.

Inzwischen wird doch auch wieder „traditionell“ gebaut und rekonstruiert: neben Berlin die Schlösser in Potsdam oder Hannover, die Frauenkirche, das Adlon, der Frankfurter Römer etc. Ist das Buß- und Bestrafungsmotiv nicht längst überwunden? 

Krier: Die Rekonstruktionen historischer Bauten in Deutschland von Dresden bis Potsdam wurden allesamt von privaten Initiativen durch besonders motivierte Bürger und gegen die Architektenschaft und Verwaltung realisiert! Das ist auch heute noch der Fall, ob es um das Frankfurter Schauspielhaus oder die Potsdamer Garnisonkirche geht. Einzig die Fachwerkhäuser am Frankfurter Römerberg wurden vom Bürgermeister höchstpersönlich gegen den Wettbewerbsentscheid durchgepaukt. Dem Architekten Ernst Schirmacher, der sich für den traditionellen Wiederaufbau der Stadt Limburg verdient gemacht hatte, wurde 1987 der „Prix de la Reconstruction de la Ville Européenne“ verliehen. Bis zum Zweiten Weltkrieg haben Machthaber durch alle Zeiten, alle Ideologien und Regime ihre Legitimität durch schöne Bauten und Kunstwerke, prachtvolle Zeremonien, feine Sprache und Bekleidung zu bezeugen versucht. Hitler, Stalin und Roosevelt markierten einen vorläufigen Schlußpunkt dieser Tradition. Seitdem sehen sich die Vertreter von Staat, Kultur, Handel und Industrie aller Länder – mit Ausnahme des Prince of  Wales und des Königs von Bhutan – als Mitkämpfer der selbsternannten „Moderne“. 

Und stehen damit im Widerspruch zur demokratischen Mehrheit?

Krier: Die breite Zustimmung der Bürger weltweit für „historische“, also traditionelle Rekonstruktionen – ob in Williamsburg/USA, Ise/Japan, Moskau, Paris oder etwa Nürnberg ist doch unbestreitbar. Das offizielle Narrativ, wonach einzig und allein Modernismus als demokratisch und modern gilt, wird immer fadenscheiniger. Mein Freund Peter Eisenman, der etwa das Berliner Holocaustmahnmal errichtet hat, behauptete in einem Streitgespräch mit mir, daß der Klassizismus durch seinen Mißbrauch in der Nazi-Zeit für alle Ewigkeit vergiftet und unbrauchbar sei. Ich entgegnete, daß er das ebensogut von der deutschen Sprache, den Autobahnen, den Massenmedien, der industriellen Produktion und der Massengesellschaft überhaupt behaupten könnte! Und so ist meine Überzeugung genau die gegenteilige: nämlich, daß die traditionellen Architekturstile unter Hitler, Mussolini oder Stalin ihren totalitären Mißbrauch unbeschadet überstanden haben und von demokratischen Gesellschaften geschätzt und gefahrlos verwendet werden können. Denn genau das gilt ja auch für herrliche Bauten längst untergegangener historischer Despotien.

Es gibt also eine Art „Kampf gegen Rechts“ in der Architektur? 

Krier: Der Modernismus hat seit 1945 quasi ein Ein-Parteien-System in Sachen Architektur, Städtebau, Erziehung, Verwaltung und Industrie etabliert. Alle, die außerhalb stehen, werden als Reaktionäre oder Faschisten verunglimpft und von großen öffentlichen Bauaufträgen und Professuren ferngehalten. A contrario wurden reputierte Nazi-Architekten wie Otto Apel, Ernst Neufert oder Wilhelm Kreis nach dem Krieg wieder akzeptabel, soweit sie Modernismus praktizierten. Was die salonlinke Architektenschaft seit der Wende radikal praktiziert, ist, daß jedes Abweichen von ihrer Linie erst ignoriert, dann als Extremismus abgestempelt und deswegen verleumdet, verdammt und denunziert wird. 

Sie differenzieren zwischen Moderne und Modernismus. Was ist der Unterschied?

Krier: Modernität und Moderne haben eine chronologische Bedeutung und beziehen sich auf die Zeit. Moderne bezeichnet die zeitgenössische Periode. Modernismus dagegen ist eine Ideologie. Die Verwirrung der Begriffe rührt vom Anspruch des Modernismus, in Gestalt der „Modernen Bewegung“ die einzig legitime Form von Modernität zu verkörpern. 

Wie hat die Architekturszene auf Ihre These vom Buß- und Bestrafungsimpetus reagiert?  

Krier: Als ich den Band „Architecture. 1932­–­1942“ über Albert Speer beim Brüsseler Archives d’Architecture Moderne herausbrachte, publizierte die Zeitschrift Bauwelt 1987 eine Spezialnummer mit dem Titel: „Die große Speer-Feier des Léon Krier. Oder: Klassik zum Völkermord“ Dabei gab man mir weder die Möglichkeit, die schlechte Übersetzung zu verbessern, noch auf die unhaltbaren Unterstellungen zu antworten. 

Wieviel Zuspruch und Unterstützung erhalten Sie umgekehrt für Ihre Kritik? 

Krier: Max Bächer war der einzige Kollege, der meine Thesen öffentlich verteidigte. Frei Otto unterstützte mich zwar erstaunlicherweise auch, aber nur unter vier Augen. Ansonsten wurde ich für die Architekturszene zu Freiwild. Peter Eisenman hielt 1985 an der Architectural Association in London, der ältesten unabhängigen Architekturschule Großbritanniens und eine meiner früheren Lehrstätten, eine Konferenz mit dem Titel „Offener Brief an Léon Krier“ ab, in der er mich als Antisemiten und Frauenhasser beschimpfte. Ich war damals beauftragt, den Sainsbury-Flügel der Nationalgalerie in London zu entwerfen. David Alford, der mit der Ausführung meines Projektes beauftragt war, zog sich infolge der Hetzkampagne aus der Partnerschaft zurück. Jacob Rothschild, mein Auftraggeber, der wußte, daß die Verleumdungen erlogen waren, beauftragte dann Harry Cobb, den Partner von I.M. Pei, mein Projekt zu bauen. Cobb war einverstanden, aber ich persönlich war durch die erlogenen Anschuldigungen psychologisch so lädiert, daß ich vom Auftrag zurücktrat und mich für Monate nach Rom an die American Academy verkroch. 

Was bedeutete das für Ihre Karriere? 

Krier: Ich hatte seither, in 35 Jahren, nur noch einen einzigen Auftrag in Deutschland: 1986 das Zukunftsprojekt „Atlantis“ für das Kunsthändlerehepaar Hans-Jürgen und Helga Müller. Das dann in der deutschen Presse folglich ohne Ausnahme, in über hundert polemischen Artikeln, verdammt wurde. Während der Dokumenta 1992 wurde das Projekt sogar Opfer eines Brandanschlags. Es schien in Deutschland völlig in Vergessenheit geraten zu sein, daß Demokratie auf Pluralismus und oppositioneller Debatte gründet! Ich überlebte diesen Sturm nur deshalb, weil ich in vielen Ländern bekannt bin und weil ich sowieso unabhängig und ohne Angestellte immer einen bescheidenen Etat hatte. Denn mit einem Büro, Mitarbeitern und lokalen Netzwerken, sprich der Abhängigkeit von örtlichen Auftraggebern etc., kann man so etwas professionell nicht überleben. Als die Architekturzeitschrift Arch+ die Initiative „Gegen Rekonstruktionen, Architekturpopulismus und Modernismusfeindlichkeit“ zur Unterstützung Stephan Trübys startete, schrieb ich ihm mehrere Male, daß wir darüber doch eine öffentliche Debatte in einem großen deutschen Medium führen sollten. Nach fast zwei Jahren Funkstille sind wir jetzt in Kontakt und ich hoffe, daß das Streitgespräch einmal stattfinden kann.

Hat „Bestrafung durch Architektur“ denn überhaupt eine seelische Wirkung auf die Deutschen oder geht das nicht an den meisten völlig auf die Bewältigung des Alltags konzentrierten Leuten vorbei? 

Krier: Schönheit zieht an und Häßlichkeit stößt ab. Die meisten Menschen behalten trotz täglicher ideologischer Gehirnwäsche ein Gefühl für das Schöne, wie für das Häßliche. Sie brauchen keine langen Erklärungen, um zu erkennen, daß sie Rothenburg ob der Tauber dem Märkischen Viertel, einer West-Berliner Betonklotz-Trabantenstadt, vorziehen. Häßliche Architektur ist eine contradictio in terminis, quasi ein Widerspruch in sich, denn Architektur ist Bau-„Kunst“. Bauten der „Moderne“ aber sind genaugenommen keine Baukunst, sondern nur kunstlos zusammengefügtes Baumaterial. Wohnzonen, Geschäftszonen, Kulturzonen, Industriezonen sind lediglich maßlose und monotone Lagerflächen für auswechselbare Nutzbauten. Beziehungslos zum Ort, zum Klima, zum Boden, zur Höhenlage, also zu den Grundbedingungen allen traditionellen Bauens. Die „Moderne“ baut denn auch keine Städte, Dörfer, Ortschaften im herkömmlichen Sinn. Es macht niemandem Spaß, sie zu entwerfen, zu errichten, zu nutzen und zu bewohnen oder – mit Ausnahme eines Dutzend Prestigebauten von Mies, Le Corbusier, Axel Schultes – sie zu besuchen. Die normalen Leute finden sich lediglich damit ab, nach dem dürftigen Motto: „Es ist zwar nicht schön, aber  zweckmäßig“ Dabei ist es ein hartes Stück seelische Arbeit, künstlerisch begabten Menschen, Lehrern wie Lehrlingen, das Künstlerische auszutreiben. Doch sie wird seit 1945, und das ohne stichhaltige Begründung, Architekten, Unternehmern, Handwerkern, Verwaltern und nicht zuletzt und vor allem den Bewohnern abverlangt. Die aus dieser kollektiven Askese entstehende entzauberte Welt liefert lediglich Behausungen für ein freudloses, ebenso entzaubertes Leben. Der modernen Gesellschaft wird täglich eingeflüstert, daß es keine Alternative zu „modernem“ Städtebau und Architektur gäbe. Doch wird es auch täglich schwerer, diese Lüge weiter aufrechtzuerhalten. Denn der Erfolg rekonstruierter Bauten, wie der Frauenkirche und des Neumarktes in Dresden, ist in meinen Augen in Deutschland ein erster zaghafter Schritt zu einer globalen Reform der gebauten Umwelt. 

Aber was ist mit dem Gegenargument,  daß „häßliches“ Bauen nichts mit Buße und Bestrafung zu tun habe, sondern das nur von Menschen ohne Bildung und Geschmack so empfunden werde. Tatsächlich aber seien moderne Baustile progressiv, kreativ, kühn und künstlerisch. Während traditionelles „schönes“ Bauen eben einfach zurückgeblieben, einfallslos und ohne künstlerisch-kreativen Wert sei?

Krier: Ein Grundirrtum der „Moderne“ ist, sich als eine globale Alternative zur traditionellen Baukunst zu verkaufen – als Fortschritt, der sich vom Ballast überholter Vergangenheit befreit. Bislang ist sie aber eine kunstlose Bautechnik, die allein mit synthetischen Materialien operieren kann. Es ist weltweit bekannt, daß auch die „kreativsten“ modernistischen Künstler kein akzeptables Dorf oder Stadtgebilde zustande bringen. Ob Walter Gropius, Le Corbusier oder Oscar Niemeyer, sie sind lediglich zu flächendeckendem Baugestotter fähig, weil ihnen die grammatischen, syntaktischen, orthographischen Organisationen komplexer Bausprachen und Gestaltungsprinzipien fehlen. Und ohne billige fossile Energie wird es kein „modernes“ Bauen mehr geben. 

Warum denn das? 

Krier: Weil Modernismus in der Architektur nur mit synthetischen Baumaterialien und Fügungstechniken möglich ist – wie man das Verbinden der einzelnen Bausteine oder -teile nennt – und weiterhin mit Klimaanlagen, die auch ein Glashaus in der Sahara bewohnbar machen. Die breite Anwendung synthetischer Materialien und industrieller Produktionsprozesse ist aber natürlich nur möglich dank dem Verbrauch ökonomisch erschwinglicher Fossil- und Atomenergie. 

Gilt das für traditionelle Architektur im Prinzip nicht ebenso? 

Krier: Nein, denn traditionelle Architektur ist eben kein Baustil, sondern erst und vor allem eine Bautechnik und eine Technologie, mit natürlichen und lokalen Baumaterialien sowie mit menschlicher Körper- und Geisteskraft stabile und schöne Gebäudeformen zu fügen. Baukunst ist die Übersetzung dieser Formen und Materialien in eine künstlerische, kodifizierte Bausprache. Um die Überlegenheit der traditionellen Baukunst zu verstehen, lassen Sie uns einmal folgende kontrastierende Annahmen machen: Stellen Sie sich zunächst vor, durch einen unerklärlichen Vorfall und mit einem Schlage verschwände unser gesamtes architektonisches Erbe aus der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg: alle historischen Gebäude, Weiler, Dörfer und Städte. Dann stellen Sie sich vor, das gleiche geschieht aus ebenso unerfindlichen Gründen nun auch mit allen „modernen“, nach 1945 errichteten Bauwerken und Siedlungen. Und nun frage ich Sie: Welchen Verlust könnten Sie eher seelisch ertragen? Und welche Welt wollen wir folglich eher unsere Heimat nennen?

Nun, „seelisch ertragen“ wohl sicherlich das Verschwinden der modernen Gebäude ... 

Krier: Eben. Und warum spricht Sie das Traditionelle tiefer an als das, was doch aus Ihrer Zeit stammt? Weil die Schönheit der Architektur genauso zeitlos ist wie die Schönheit der Natur. Den Menschen ist es im allgemeinen egal, wie alt oder wie historisch ein Gebäude ist, oder wer der Architekt oder ursprüngliche Bauherr war. Aber an der wiedererbauten Frauenkirche in Dresden wird auch ein gottloser Banause nicht vorbeigehen, ohne ergriffen zu sein. Die Schönheit der Architektur vereint die Menschen, die Völker, die Klassen und Religionen. Ein Christ kann spontan schöne islamische Moscheen bewundern und ein Muslim kann sich an der Schönheit der Kathedralen ergötzen. Der Knecht bewunderte die Schönheit des Schlosses und der Prinz erfreut sich an der Schönheit des Stalls. Und ein Anarchist kann die Werke totalitärer Regime bewundern. Schönheit ist nicht politisch, sie wird lediglich politisch ge- oder mißbraucht. 

Aber modernes Bauen drückt nun einmal unsere heutige, moderne Welt aus, so ein weiteres Gegenargument. „Schönes“ Bauen sei dagegen Selbstbetrug, mit dem man sich die Welt so heimelig machen möchte, wie sie in Wahrheit nicht ist. Das sei unauthentisch, unpolitisch und eine Art kulturelles Disneyland. Sind das keine Argumente, die Sie überzeugen? Und zeigen diese Argumente nicht, daß es doch um Kunst und nicht um Buße und Bestrafung geht? 

Krier: Ich wiederhole, was ich vorhin schon versucht habe, klarzumachen: „Modernität“ ist keine Stilfrage. Alles, was heute gebaut wird, ist rein nach Meyers Lexikon „modern“. Der philosophische Irrtum der „Moderne“ ist die ideologische Neukodierung des Wortes Modernität – und gleichzeitig die „Historisierung“ aller Formen und Techniken traditionellen und klassischen Bauens. Das ist genauso skandalös, wie zu behaupten, das Rad sei historisch und deswegen vormodern und obsolet. Traditionelle Architektur und traditioneller Städtebau sind zuerst und vor allem Technologien, um mit lokalen Materialien und Ressourcen dauerhaft Schönes zu erstellen, sowohl materiell wie auch geistig. Meine Floskel, daß die Deutschen weiterhin und auf Ewigkeit architektonisch Buße tun müßten für eine kollektive Versündigung, war Galgenhumor, um die Leute aus ihrem Taumel aufzuwecken.

Wie? Alles nur ein Kniff und gar nicht ernst gemeint?

Krier: Das mit dem „Bußetun“ war natürlich im Scherz gemeint, damit die Leute endlich aufwachen und sich nicht mehr freiwillig ästhetisch knechten lassen. Das ist doch jetzt wirklich durch die Wiederaufbauten rund um Deutschland geschehen und jetzt auch in Paris, wo Präsident Macron endlich die ausgeleierte Idee aufgegeben hat, auf Notre Dame ein „kreatives Wahrzeichen der Modernität“ zu setzen. Sogar Trump liegt ein „Presidential edict“ zur Unterschrift vor, nach dem für Federal buildings, also Bauten der Bundesregierung, der klassische Stil vorzuziehen sei.

Sie sagen, die Mehrheit der Bürger finde sich lediglich damit ab, wie heute gebaut wird, befürworte es aber nicht. Wie ist das eigentlich möglich? Wir leben ja nicht im Absolutismus oder in einem Obrigkeitsstaat, sondern in einer Demokratie, in der die Bürger eigentlich selbstbestimmt sind.

Krier: Daß wir in einer Scheindemokratie leben, das hat die reale Wahllosigkeit in Sachen Architektur seit 1945 in Ost und West demonstriert. Nicht die Bürger, sondern die Architektenschaft hat allein die Architektur der großen Bauaufträge vom Staat und von subventionierten Baugesellschaften diktiert. Traditionelles Bauhandwerk überlebte lediglich durch kleine Unternehmen auf dem Land und vor allem in den Bergen. Ohne den massiven Druck von Bürgerinitiativen und das enorme Engagement einzelner Persönlichkeiten wie Wilhelm von Boddien in Berlin, Torsten Kulke in Dresden oder Jürgen Aha in Frankfurt wäre keine einzige der von der großen Mehrheit so geschätzten Rekonstruktionen in Deutschland zustande gekommen! Die Mehrheit der Bürgerstimmen für die Rekonstruktion des Dessauer Schloßplatzes wurde unlängst von der Verwaltung durch den Quorum-Trick vereitelt. Was also Kultur und Architektur anbelangt, leben wir tatsächlich in einer perfiden Form von Absolutismus. Unsere Museen Moderner Kunst, unsere Plätze, unsere Banken, Kirchen, Rathäuser, Schulen, Verwaltungsbauten, bis hin zu den Bayreuther Bühnenszenen sind ohne Ausnahme mit kunstlosem Schund und billigen Provokationen vollgepackt. 

Aber weshalb lassen die Bürger sich das gefallen? 

Krier: Weshalb schweigen die Lämmer? Darauf gibt es viele und lange Antworten. Doch auch wenn man sie mundtot  gemacht hat, so sind ihre Gefühle für Schönes, Gutes und Sinnvolles nicht abgetötet. Man redet den Menschen auch ein, daß in unserem Finanz- und Produktionssystem keine Alternative möglich wäre. Das aber ist eine Lüge! Denn auch innerhalb dieser Form von Kapitalismus gibt es viele Gegenmodelle zur „Moderne“. 

Zum Beispiel? 

Krier: François Spoerry hat ab 1963 die zauberhafte Marina-Stadt Port Grimaud bei St. Tropez zum Preis des damaligen französischen sozialen Wohnungsbaus  und durch lokale Kleinunternehmern errichtet. Die Bedeutung dieses Jahrhunderterfolgs haben bis heute aber nur wenige Politiker erkannt. Dabei hat sein Experiment revolutionäre kulturelle und wirtschaftliche Relevanz. Die Wohnanlage Las Lomas de Marbella Club in Mallaga, Andalusien, von Donald Gray ist zur selben Zeit entstanden. Ein Meisterwerk von Stadtbaukunst und Architektur, das das Fortschrittsnarrativ gleichzeitig errichteter „moderner“ Siedlungen, die Spanien verhunzen, Lügen straft. Gray gewann kurz vor seinem Tod mit achtzig Jahren seine erste professionelle Anerkennung durch den prestigeträchtigen bedeutenden Premio Manzano-Preis für neue traditionelle Architektur. Dabei war er gar kein Architekt, sondern lediglich ein in Andalusien verliebter Englischlehrer.

Gibt es wirklich Anzeichen dafür, daß die Ära der modernen Architektur ein Ende findet? Nicht einzelne, gegen den architektonischen Mainstream durchgesetzte Projekte, auf die Sie vorhin bereits verwiesen haben, sondern einen breiten Umschwung, eine strukturelle Änderung der Lage?

Krier: Es gibt keine Zeichen für einen breiteren Umschwung – denn die „Moderne“ behält Politik, Verwaltung und die Ausbildung des Nachwuchses im Würgegriff. Die meisten Architekten, die heute weltweit klassische Architektur und traditionelles Bauen praktizieren, haben sich das Wissen dafür im Selbststudium erworben! Von den heute in Deutschland praktizierenden Klassikern, wie den Brüdern Jürgen und Rüdiger Patschke, Sebastian Treese, Christoph Sattler, Paul Kahlfeldt, Rob Krier, hat allein Helmut Peuker bei einem klassischen Meister gelernt, nämlich bei Bruno Schindler senior, der bis in die achtziger Jahre als Solitär traditionelle Bautechniken an der TH in Aachen lehrte. In Deutschland kommen Klassiker noch nicht an öffentliche Aufträge heran. Aber im Wettbewerb um die Gestaltung von Königsufer und Neustädter Markt in Dresden 2019 haben zum ersten Mal zwei Klassiker die zwei ersten Preise davongetragen. Das aber nur, weil die „Gesellschaft Historischer Neumarkt Dresden“ und die Bürger aktiv an der Vorbereitung und Entscheidung beteiligt waren. Allerdings erzeugt nun die Verwaltung Druck, den demokratischen Wettbewerbsentscheid zu stornieren. In Frankreich gibt es größere Stadtprojekte wie Val d’Europe oder Port Royal en Provence, und auch modellhafte Erneuerungsprojekte verslumter „Cités“, wie Plessis-Robinson der französischen Architekten Marc und Nada Breitman und das Büro des schon genannten Spoerry. Diese bei der Bevölkerung sehr beliebten Projekte werden in den Medien natürlich als „Disneyland“ verrissen, wenn man sie nicht gar systematisch ignoriert und totschweigt.

Aber wie soll eigentlich schöne und gleichzeitig auch zeitgenössische, künstlerisch anspruchsvolle Architektur jenseits bloßer Reproduktion klassischer Formen vergangener Architekturstile aussehen?  

Krier: Schönheit und Architektur sind anspruchsvoll, per Natur und Definition. Außer Dankwart Guratzsch und Rainer Haubrich sind die Architekturkritiker der deutschen Medien ausnahmslos entweder offen oder verkappt Modernisten. Und für diese gehört alles moderne traditionelle Bauen auf den Müllhaufen der Geschichte. 

„Modernes traditionelles“ Bauen?

Krier: Ja, denn die Moderne ist eine Epoche, in der es natürlich auch ein traditionelles Bauen gibt. Und beides ist kein Gegensatz. Der Gegensatz zum traditionellen ist vielmehr das modernistische Bauen. Wie auch immer, was die Modernisten einfach nicht verstehen wollen ist, daß Demokratie Wahlfreiheit sichern muß – auch in Sachen Architektur und Kunst.

Gut, aber nochmal: Wie sieht so eine Architektur aus, die schön und traditionell ist, aber gleichzeitig nicht nur frühere Epochen reproduziert, sondern zeitgemäß ist und unsere Epoche ausdrückt?

Krier: Wenn man heute baut und entwirft kann man nicht umhin, unsere Zeit auszudrücken im Guten oder im Schlechten. Zeitausdruck ist keine Qualität an sich noch eine Aufgabe, sondern eine unabwendbare Tatsache.

Weltberühmt ist Ihre, zusammen mit Prinz Charles verwirklichte Beispielsiedlung Poundbury im südenglischen Dorsetshire mit 3.500 Einwohnern. Die dörflich-kleinstädtische Anlage ist aber doch keine Lösung für unsere weiter wachsenden Großstädte – und auch nicht für Großbauten wie sie heute Bürohäuser, Firmenzentralen, Einkaufszentren oder Wohnhäuser für viele Menschen nötig machen. Solche Komplexe verlangen eine kompakte Bauweise und lassen sich doch nicht im kleinteiligen Poundbury-Stil verwirklichen.  

Krier: Poundbury ist ein Kleinstadt-Projekt, das nicht vorgibt, eine Lösung für Metropolen zu sein. Allerdings haben Menschen in Großstädten dieselbe Körpergröße und dieselben Fähigkeiten wie in Dörfern und Kleinstädten. Deswegen ist ein Quartier in Paris nicht größer als ein großes Quartier in Poundbury. Gemäß dem traditionellen Städtebau soll die Stadt durch begehbare Stadtviertel-Größen und begehbare Gebäudehöhen limitiert sein, und jedes Viertel soll gemischte Nutzung und gemischte Einkommensklassen erlauben. In Poundbury sind 35 Prozent der Häuser und Wohnungen „social“.

Also erschwinglich für junge Familien und Niedriglohnempfänger?

Krier: Ja, diese „social houses“, also „Sozialwohnungen“, sind nicht in einer Zone zusammengefaßt, sondern verteilt im ganzen Viertel und äußerlich nicht zu unterscheiden von den Gebäuden ihrer reicheren Nachbarn. Das braucht übrigens gar nicht geplant zu werden, das muß lediglich nicht verboten werden – denn das ist Common Sense. Mein Projekt Cayala in Guatemala dagegen hat allerdings zum Teil eine Einwohnerdichte, die der der City of London entspricht. Es ist einfach falsch, zu denken, daß „Großbauten“ und „kompakte Bauweise“ notgedrungen zum modernistischen Formenkanon zwingen. Gigantische Gebäudeanlagen sind meistens aus einem typologischen Teig geformt, den man auch in mehrere Brote und Brötchen teilen kann. Die meisten sogenannten Großbauten ergeben sich aus der Planung, nicht aus der Nutzung – das heißt, sie sind gewollt, nicht aber zwingend notwendig. In Luxemburg habe ich mit meinem Bruder Rob Krier den neuen Justizpalast auf sieben verschiedene Gebäude verteilt, die funktional unabhängig sind. Das erleichtert die Nutzung und Orientierung. Jedes Gebäude ist einfach zu identifizieren, und etwa der Jugendgerichtshof kann nicht mit dem Hohen Gerichtshof oder der Bibliothek verwechselt werden. Die Gebäude stehen auch nicht wie ein großer Klotz beisammen, der das Stadtgefüge sprengt, sondern säumen Plätze, Gassen und Promenaden, die sich nahtlos in die Altstadt integrieren. Natürlich aber lief  die Presse jahrelang Sturm dagegen, und zwar so hinterhältig, daß die Bürger sich dafür entschuldigen, wenn sie äußern, daß sie die Anlage schön finden. 

Ist das Problem der Architektur heute, ja der Kunst überhaupt, nicht eigentlich die „Masse“: In Zeiten des massenhaften Historismus, also zu Beginn des 20. Jahrhunderts, waren Funktionalismus und Bauhaus eine Wohltat – weil sie klar, rein und reduktionistisch waren: eine Erholung vom Pomp des 19. Jahrhunderts. Heute, in Zeiten modernistisch-funktionellen Bauens wird erneut das jeweilige Gegenteil – Kleinteiligkeit und Verspieltheit –, als Erholung von der funktionellen Nüchternheit empfunden. Egal also, wie wir bauen – werden wir uns nicht immer nach genau dem Gegenteil sehnen? 

Krier: Demetri Porphyrios’ Bauten für die Universität Swansea in Wales und Robert A.M. Sterns „Benjamin Franklin“- und „Pauli Murray“-College – beide gehören zur Universität Yale – sind modernste Großanlagen im klassischen Stil und deswegen auch sehr beliebt. Stern hat über dreihundert Angestellte, die weltweit moderne Großanlagen jeder Art und Nutzung gebaut haben. Für jede Nutzung gibt es also auch klassische Lösungen. Das Problem des Eklektizismus der Gründerzeit war, daß er zu einer gleichzeitigen Uniformierung und Verwirrung der Bauaufgaben tendierte, die Fabriken als Schloßanlagen und Pumpanlagen als Moschee verkleidete. Die „Moderne“ dagegen überreagierte und erstellt Kulturpaläste, die aussehen wie Fabriken, Massenbehausungen wie Kaninchenställe und Schulen, die nicht von Kirchen, und Gefängnissen oder Großgaragen zu unterscheiden sind. Die Typologie traditioneller Bauten reicht vom Telefonhäuschen bis zum Warenhaus und Flughafen. Der Unterschied zur „Moderne“ liegt in der Hierarchie, also dem äußeren Erscheinungsbild und der Lebensdauer: Die Schönheit einer Lagerhalle ist eben von anderer Natur als die einer Kirche. Und dieser Aspekt hängt auch von der geplanten Lebensdauer ab. Daß unser gesamtes Bauwesen im Grunde als kurzlebige Konsumobjekte geplant und gebaut und nach noch kurzlebigeren Moden gestaltet werden, dafür gibt es keine Zukunft.                                           






Léon Krier, der preisgekrönte Architekt und Stadtplaner lehrte unter anderem am Londoner Royal College of Art, in Princeton, Yale, der Cornell-Universität New York und war Direktor des Skidmore, Owings & Merrill Architectural Institute in Chicago. Geboren wurde er 1946 in Luxemburg. Sein Bruder ist der ebenfalls bedeutende Architekt Rob Krier. 

Fotos: Kritiker Krier: „Die Historisierung traditionellen und klassischen Bauens ist skandalös – ebenso skandalös, wie etwa zu behaupten, das Rad sei ’historisch’ und somit vormodern und obsolet ... Schönheit ist zeitlos, in der Natur wie der Architektur“;   Krier-Skizze der Citta Nuova Alessandria in Italien (erbaut 1997, jedoch ohne den Kirchturm): „Traditionelle Architektur ist eben kein Baustil, sondern vor allem eine Bautechnik mit natürlichen und lokalen Baumaterialien ... stabile und schöne Gebäudeformen zu fügen“; Krier-Projekt „Cayala“ (gemeinsam mit Estudio Urbano) in Guatemala (links), Mustersiedlung Poundbury in Dorset, Südengland (links unten) und deren organisch gestalteter Lageplan (unten): „Daß unser gesamtes Bauwesen im Grunde als kurzlebige Konsumobjekte geplant und nach noch kurzlebigeren Moden gestaltet werden, dafür gibt es keine Zukunft.“  

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