© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/20 / 21. August 2020

Rascher Zerfall zivilgesellschaftlicher Toleranz
Deutscher Meinungsklimawandel
(ob)

Als die „Qualitätspresse“ im Frühjahr 2019 pflichtschuldigst Elogen auf das 70 Jahre alt gewordene Grundgesetz druckte, störten zwei Umfragen dieses patentdemokratische Wettsingen. Zunächst präsentierte das Allensbacher Institut für Demoskopie zum Verfassungstag am 23. Mai eine Umfrage zum Thema grundgesetzlich garantierter Meinungsfreiheit. Demnach äußerten 71 Prozent der Befragten, über die „Flüchtlingsthematik“ nur „mit Vorsicht“ zu reden. Das entsprach der anschließend publizierten Shell-Studie, der zufolge 68 Prozent der befragten Jugendlichen der Aussage zustimmten: „In Deutschland darf man nichts Schlechtes über Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden.“ Offenbar, so folgert Michael Haller (Europäisches Institut für Journalismus- und Kommunikationsforschung), belegen diese Zahlen, daß die Meinungsfreiheit heute weniger vom Staat als durch die Gesellschaft selbst bedroht werde. Die Mehrheit der Bevölkerung sehe sich im öffentlichen Raum rigider sozialer Kontrolle ausgesetzt. Diese Momentaufnahmen könnten inzwischen durch viele Befunde aus sozialempirischen Erhebungen, auch des eigenen Leipziger Instituts, bestätigt werden. In Deutschland habe das „Meinungsklima“ seine Durchlässigkeit verloren, zerfalle der öffentliche Diskurs in „Meinungsinseln“. Dabei sieht Haller das idealistische „zivilgesellschaftliche“ Leitbild von einer meinungstoleranten Öffentlichkeit sowohl von „moralisierenden Universalisten der Mainstreammedien (insbesondere den öffentlich-rechtlichen)“ wie von „konservativ bis nationalistisch denkenden Milieus“ bedroht (Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 6/2020). 


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