© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/20 / 21. August 2020

Eine Rüge, die es gar nicht gibt
Doktorarbeit mit Plagiaten: Familienministerin Franziska Giffey im Strudel eines Wissenschaftsskandals
Thorsten Hinz

Was kann man von einer Publikation erwarten, die den Titel trägt: „Europas Weg zum Bürger – Die Politik der Europäischen Kommission zur Beteiligung der Zivilgesellschaft“? Spontan denkt man an steuerfinanzierte Hochglanz-Werbebroschüren, die vor den Wahlen zum Europaparlament massenhaft in Briefkästen gesteckt werden, um ungelesen im Altpapier-Container zu landen. Doch in dem Fall handelt es sich um die Dissertation, mit der Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) 2009 an der Freien Universität Berlin mit dem Prädikat „Magna cum laude“ zum Dr. rer. pol. promoviert wurde.

Hier gilt es also der Wissenschaft, dem zweckfreien Forschen, das Perspektiven eröffnet und neue Horizonte aufrollt. So gesehen könnte der Titel  es in sich haben, denn ein „Europa“, das sich auf den „Weg zum Bürger“ macht, ist für diesen kaum weniger bedrohlich als wenn Afrika oder Kalkutta an seine Haustür pochen. Und bedeutet es nicht einen heimlichen Protest gegen die Politische Korrektheit, wenn „Europa“ in der Überschrift zur „Europäischen Kommission“ schrumpft, dem Leitungsorgan der Europäischen Union, jenem „sanften Monster“, das – laut Hans Magnus Enzensberger – für „die Entmündigung Europas“ – verantwortlich ist? Wenn die Kommission die „Zivilgesellschaft“ an der Politik beteiligt, steht sie zu ihr logischerweise in einem hierarchischen Verhältnis, was nahelegt, daß sie ihr als Transmissionsriemen dient, um den entmündigten Bürger mit dem entmündigten Europa zu versöhnen.

Als eine Beobachtung zweiter Ordnung hätte Frau Giffeys Dissertation also durchaus interessant sein können. In der Nachfolge Kants hätte sie nur fragen müssen: Was ist Europa? Was die Europäische Union? Was kann die politische Wissenschaft? Was darf der Bürger von ihnen erhoffen?

Ihrer Arbeit mangelt es an intellektuellem Format

In der EU-Praxis kennt Giffey, Jahrgang 1978, sich jedenfalls gut aus.Von 2002 bis 2010 war sie Europabeauftragte in der Verwaltung des Bezirksbürgermeisters von Berlin-Neukölln. Parallel dazu absolvierte sie ein Studium für Europäisches Verwaltungsmanagement. Beim EU-Büro des Landes Berlin in Brüssel und bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg absolvierte sie eine praktische Ausbildung.

Leider hat der banale Titel der Dissertation keinen subversiven Hintersinn. Wenigstens faßt er den Sinn oder Nicht-Sinn der Arbeit gut zusammen. Giffey fehlt jeglicher reflexive Abstand zum  Forschungsgegenstand. Sie ist eine Politikerin, die sich – sei es aus Eitelkeit, sei es aus Karrieregründen – „zwar legal, aber wertlos“ (Der Spiegel) mit akademischen Meriten schmückt. Ihre Dissertation ist ein affirmativer Erfahrungsbericht, der auch überschrieben sein könnte: „Was ich in Brüssel und Berlin-Neukölln sah und hörte“. In Brüssel macht man Geld locker und im Gegenzug den Leuten in Neukölln die EU-Politik schmackhaft. Zum Beispiel mit dem Rätselheft „Das Europa-Spiel – Europa verstehen leicht gemacht“, das 300mal in Kindereinrichtungen verteilt wurde. In ihrer Zusammenfassung („Abstract“) werden die gesammelten Banalitäten zum exklusiven wissenschaftlichen Ansatz hochgestapelt: „Das Forschungsdesign beinhaltet eine Typologisierung der Beteiligungsinstrumente der Europäischen Kommission und die Entwicklung eines eigenen Analyserasters mit den Eignungsdimensionen Zugänglichkeit, Mehrwert und Inklusion zur Prüfung der Eignung politischer Beteiligungsinstrumente.“

Es gibt Experten, die die mehr als 200 Seiten gelesen haben und sie als wissenschaftlich wertlos einschätzen. Die gefürchtete Rechercheplattform Vroniplag konstatierte „die zahlreichen willkürlichen Referenzierungen. Wenn man Aussagen durch Angabe von Quellen, die das Ausgesagte gar nicht belegen, zu belegen vorgibt – wie Frau Giffey das nach unseren Erkenntnissen in über 70 Fällen getan hat –, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis man es hier noch mit einer wissenschaftlichen Arbeit und nicht mit schlechter Belletristik zu tun hat.“

Doch mangelt es Giffeys Arbeit nicht nur am intellektuellen Format, sondern auch am Handwerk. Vroniplag hatte 119 Plagiatstellen festgestellt, darunter Übernahmen aus einem offiziellen Bericht der EU. Bis zum 16. August 2020 wurden auf 76 von 205 Seiten Plagiatfundstellen registriert, das sind 37 Prozent der Seiten. Auf 11 Seiten liegt der Plagiat-Anteil bei 50 bis 75 Prozent. Vergleichbare Schummeleien haben in der Vergangenheit stets zum Verlust des Doktortitels geführt und Politiker-Karrieren beendet. So war es bei der Bundesbildungsministerin ­Annette Schavan (CDU) und der FDP-Frau Silvana Koch-Mehrin. Besonders spektakulär verlief der Sturz des Verteidigungsministers Karl-Theodor von und zu Guttenberg (CSU), 

So blieb Franziska Giffey nur übrig, die Flucht nach vorn anzutreten, eine Überprüfung ihrer Dissertation zu beantragen und ihren Rücktritt anzukündigen, falls die zuständige Kommission der Freien Universität (FU) ihr den akademischen Titel aberkennen sollte. Soviel öffentlicher Edelmut scheint bei den Kommissären eine tiefe Rührung ausgelöst zu haben, denn sie ließen Giffey mit einer „Rüge“ davonkommen – eine Sanktionsart, für die es keinen Präzedenzfall gibt. In ähnlich gelagerten Fällen hat die FU den Delinquenten den Titel konsequent entzogen. Die Annahme liegt nahe, daß sachfremde Motive eine Rolle spielten und eine aktive Politikerin vorsätzlich geschont werden sollte.

Die Freie Universität hat Recht gebrochen 

Tatsächlich gilt Giffey in der Bundes-SPD als eines der wenigen noch vorzeigbaren Gesichter. Für die Landes-SPD ist sie die vermutlich letzte Hoffnung. Die Berliner Sozialdemokraten, die unter dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt bei Wahlen mehr als 60 Prozent einfuhren, liegen in Umfragen bei 16 Prozent und damit unter den Parteien auf Platz vier. Der Talmi-Glanz des Klaus Wowereit ist verblaßt; mit seinem Namen wird heute nur noch die Endlos-Tragödie um den Flughafen verbunden. Der gegenwärtige Regierende Bürgermeister Michael Müller verfügt über den Charme eines subalternen Kanzlisten und ist ohne Gestaltungskraft. Mit ihm sind keine Wahlen zu gewinnen. Der Plan lautet nun, daß Müller in den Bundestag wechselt und Giffey dafür die SPD-Spitzenkandidatur in Berlin übernimmt. Was sich natürlich nur bewerkstelligen läßt, wenn sie die Dissertations-Affäre einigermaßen unbeschadet übersteht. Da trifft es sich gut, daß der für die Mittelzuweisung an die Universitäten zuständige Wissenschaftssenator Michael Müller heißt. Das sind selbstverständlich nur Mutmaßungen, die aber die Plausibilität der Lebenspraxis auf ihrer Seite haben.

Um zunächst die juristischen Aspekte des Falles zu klären, hat die AfD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus einen Fragenkatalog an den Wissenschaftlichen Dienst des Landesparlaments gerichtet. Der hat für die rechtliche Würdigung einschlägige Verwaltungsvorschriften und Gerichtsurteile bis hoch zum Bundesverwaltungsgericht gesichtet. Die ausführliche Antwort fällt für die Universität und mittelbar auch für Giffey vernichtend aus. „(Um) eine Rüge als geringere Sanktion für zulässig zu halten“, kämen „nur Fälle in Betracht, in denen die vorsätzliche Täuschung durch Plagiieren als ‘leichter Verstoß‘ gegen die grundlegenden wissenschaftlichen Pflichten zu qualifizieren wäre“. Ein solcher Fall sei jedoch „kaum denkbar“. Das Berliner Hochschulgesetz biete „keine Ermächtigungsgrundlage für die Erteilung einer Rüge. Andere Vorschriften im Hochschulgesetz oder in den Promotionsordnungen der Berliner Hochschulen, die als Ermächtigungsgrundlage für eine Rüge in Betracht kämen, sind nicht ersichtlich.“ Die Kommission habe den „vorgegebenen Ermessensrahmen (…) in unzulässiger Weise“ überschritten. Kurzum: Sie hat mit ihrem Entscheid Recht gebrochen.

Davon unberührt bleibt der von Vroniplag festgestellte wissenschaftliche Unwert der Arbeit: „Hier hätte nach dem Berliner Hochschulgesetz noch geprüft werden müssen, ob ‘wesentliche Voraussetzungen für die Verleihung [des akademischen Grades] nicht vorgelegen haben’.“

Als zusätzliche Peinlichkeit sei vermerkt, daß Giffeys Doktormutter ­Tanja Börzel, die dieses Elaborat mit der zweitbesten Benotung bedachte, auch der Kommission angehörte, die über Geffeys Arbeitsweise befinden sollte. Börzel ist am Otto-Suhr-Institut für Politik- und Sozialwissenschaften der FU, Arbeitsstelle Europäische Integration, tätig und Direktorin des Jean-Monnet-Exzellenzzentrums „The EU and its Citizens“. So oder so ähnlich lauten auch die Titel ihrer Publikationen.

Es ist nur angemessen, wenn der Vorsitzende des Wissenschaftsausschusses im Abgeordnetenhaus Martin Trefzer (AfD) einen Untersuchungsausschuß ins Gespräch bringt, um Akteneinsicht in die Entscheidungsprozesse zu bekommen. Es dürfte sich das Bild eines inzestuösen, selbstrefentiellen Systems aus miserabler Politik und opportunistischem Wissenschaftsbetrieb ergeben. Gerade die Politikwissenschaft produziert mehr Ideologie, Gesinnung und Haltung als Wissen und Erkenntnisse. Da ist es beinahe schon wieder egal, ob aus dem „Fall Giffey“ jetzt Giffeys Fall folgt.