© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/20 / 21. August 2020

GegenAufklärung
Kolumne

Wann genau ist es üblich geworden, bei der Verbindung zwischen einem deutlich älteren Mann und einer deutlich jüngeren Frau nicht mehr von „Johannisfeuer“ hier und „Vaterkomplex“ dort auszugehen, sondern von der Erwartung baldiger Pflegebedürftigkeit auf der einen und „Helfersyndrom“ auf der anderen Seite?

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„Neben der gemeinsamen Abstammung und dem gemeinsamen Raum sind es die gemeinsamen kulturellen Güter, wie die gemeinsame Sprache, das gemeinsame kulturelle Leben, die gemeinsame Literatur, die gemeinsame Kirche, die das natürliche Volk aus seiner naturhaften elementaren Sphäre herausführen, es zu einer ideellen Wertgemeinschaft zusammenschließen und eine konkret-individuelle geschichtliche Gestalt annehmen lassen. Schließlich sind es aber auch noch die gemeinsamen geschichtlichen Erfahrungen, die ihrerseits integrierend wieder auf die Völker zurückwirken und diese von sich aus zu einer Einheit zusammenschließen. (…) In der Regel sprechen wir von einem Volk und einer Volksgemeinschaft und verwenden wir Begriffe wie z. B. Volksbewußtsein, Volksgeist, Volkstum, Volksgefühl nur, wenn die eben erwähnten objektiven Konstitutionselemente eines Volkes, nämlich gemeinsame Abstammung, gemeinsame territoriale Basis, gemeinsame Sprache und Kultur und gemeinsame Geschichte sich in einer menschlichen Gruppe wechselseitig miteinander verknüpfen.“ (Gerhard Leibholz, Jurist deutsch-jüdischer Herkunft, durch das NS-Regime amtsentsetzt und nach Großbritannien geflohen, Ehemann Sabine Bonhoeffers, der Zwillingsschwester Dietrich Bonhoeffers, Richter am Bundesverfassungsgericht 1951–1971, in einem Beitrag für das Handbuch Politisch-Historischer Bildung des Bundesministeriums der Verteidigung, Bd 1, 1957)

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Die französische Regierung verbreitet ein Plakat, auf dem eine aparte junge Dame mit Kopftuch in den Farben der Trikolore zu sehen ist, dazu der Schriftzug „Ich bin Muslima und ich bin Französin“. Das ist ohne Zweifel geschickt gemacht. Allerdings will mir der Kontrast zu dem Foto einer der Antirassismus-Demonstrationen nicht aus dem Kopf gehen, auf der man eine schreiende Megäre mit Migrationserfahrung ein Pappschild hochhalten sieht, darauf die Zeilen: „Ich bin eine französische Muslima und trage den Schleier, und wen ich störe, den fordere ich auf, mein Land zu verlassen.“

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Der bizarre innerprotestantische Streit um den „Antisemiten“ Martin Niemöller – weiland hochdekorierter U-Boot-Kapitän, dann Pfarrer und nationaler Sozialist, dann Kopf der Bekennenden Kirche, KZ-Häftling, dann Führer des linken EKD-Flügels und Lenin-Friedenspreis-Träger und Schutzpatron der Achtundsechziger – erinnert mich an einen Vortrag, den ich vor vielen Jahren bei einer Pfarrkonferenz über ihn gehalten habe. Auf die irritierte Rückfrage einer Teilnehmerin, warum für Niemöller nach dem Zweiten Weltkrieg die Deutsche Frage so entscheidende Bedeutung hatte, antwortete ich freundlich, daß er damit keineswegs allein gewesen sei. Auch der Sozialdemokrat Kurt Schumacher, wie Niemöller ein Opfer des NS-Regimes, habe die Wiedervereinigung als ersten Punkt der politischen Agenda betrachtet. Darauf die geistliche Dame unbeeindruckt: „Dann waren eben beide Nazis.“

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Nach einer Umfrage des Gallup-Instituts wünschen 78 Prozent der Studenten an US-Universitäten die Einrichtung von „Geschützten Räumen“, in denen sie auch vor sogenannten „Mikroaggressionen“ sicher sind. Dagegen haben nur 59 Prozent den Eindruck, daß an der Hochschule das Recht auf Meinungsfreiheit gewährleistet sei; 2016 waren es noch 73 Prozent.

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Die Brandstiftung in der Kathedrale von Nantes ist faktisch schon wieder vergessen. Dem Urheber scheint man gnädig gestimmt. Die offizielle Stellungnahme von kirchlicher Seite klingt im Grunde wie die seines Verteidigers: kein Attentat, nur Sachbeschädigung, wenn nicht nachvollziehbar, dann doch verstehbar, wegen der Not des Mannes, der Tatsache, daß er sich in Frankreich nach wie vor heimatlos fühle, nun auch noch abgeschoben werden solle, weil sein Asylantrag wiederholt zurückgewiesen wurde. François d’Orcival hat in dem konservativen französischen Magazin Valeurs Actuelles diese eigenartige Form von Tätersympathie mit einem anderen aktuellen Vorgang verknüpft: der Gedenkfeier zum 5. Jahrestag der Ermordung von Pater Jacques Hamel. Hamel war am 26. Juli 2016 während der Messe bestialisch getötet worden. Während sich die geistlichen Würdenträger in allgemeinen Betrachtungen über das Böse ergingen, dem der Bruder anheimgefallen sei und sich zuletzt nur zu einem verquasten „Die Mörder Pater Hamels dachten, daß sie recht hatten, und wir haben das Recht zu denken, daß sie sich getäuscht haben“ durchringen konnten, fand der Innenminister, der teilnahm, deutliche Worte: Er sprach von „islamischer Barbarei“.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 4. September in der JF-Ausgabe 37/20.