© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/20 / 21. August 2020

Wann kriegen wir unser Geld zurück?
Ohne gesetzliche Grundlage: Jahrelang verschickten die Öffentlich-Rechtlichen automatisierte Bescheide
Markus Mähler

Wir alle kennen das: Mit einer Maschine läßt sich nicht reden, denn sie versteht uns nicht wirklich. Sie arbeitet ein Verfahren ab, und wir sind dort Nummern. Genau dieses Gefühl beschleicht viele, die den Kontakt zum Beitragsservice suchen: verloren wie in einer Warteschleife. 

Wir wollen Antworten, von der Ex-GEZ kommen Textbausteine. Die Briefe sind gefüllt mit den immer gleichen und oft inhaltsleeren Sätzen. Sobald es um die acht Milliarden Euro für ARD und ZDF geht, kommen die Maschinen beim Beitragsservice aber erst so richtig auf Touren: Eine millionenfache Flut von Rundfunkbescheiden ergießt sich über das Land – Jahr für Jahr. 

Wer einen Blick auf diese Papiere riskiert, wundert sich bereits über das Datum. Immer öfter halten wir einen Bescheid vom Sonntag in den Händen. An einem Sonntag sitzt aber kein Mensch im Büro. Wer überprüft dann noch, ob das, was aus dem Drucker kommt, überhaupt Sinn ergibt? Niemand. Bei der Ex-GEZ sind sich die Maschinen selbst genug. Sie verwalten uns, sie fordern das Geld von uns. 

Ein Paragrah eigens für die ARD gemacht

Wir bemerken nicht, wieviel künstliche Intelligenz hier schon am Werk ist. Die ARD treibt ihr Massenverfahren immer weiter voran – vielleicht zu weit. Das zeigt ein Fall, der jetzt am Verwaltungsgericht Frankfurt verhandelt wurde. Eine Frau in Hessen wehrt sich Anfang 2020 gegen die Eintreibung des Rundfunkbeitrags. Sie bittet einen Anwalt um Hilfe. Thorsten Bölck von der Kanzlei Quickborn empfiehlt der Mandantin, binnen eines Monats Widerspruch gegen die Bescheide einzulegen. 

Das tut sie im Februar und im April 2020. Im Mai kommt es zum Prozeß. Bölck zeigt, wo die Maschine beim Berechnen der Rundfunkbeiträge irrt. Zudem schaut er sich den Paragrafen 35a des Hessischen Verwaltungsverfahrensgesetzes an. Dort heißt es, ein „Verwaltungsakt“ – das ist ein solcher Bescheid – „kann vollständig durch automatische Einrichtungen erlassen werden, sofern dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist“. Bölck verweist auf den Paragraphen 10a im Rundfunkbeitragsstaatsvertrag. Dank diesem dürfen bei den Rundfunkanstalten Bescheide tatsächlich „vollständig automatisiert“ aus der Maschine kommen. Ein Detail bringt aber alles ins Wanken: dieser Paragraph 10a tritt erst im Juni 2020 in Kraft – auch in Hessen. 

Der Fall wurde im Mai verhandelt, die Bescheide der Dame sind noch älter. Sie wurden wie Millionen andere noch ohne diese Rechtsvorschrift erlassen. Der Anwalt muß nicht einmal zur Verhandlung nach Frankfurt reisen. Die Klageschrift genügt. Der Hessische Rundfunk (HR) gibt Anfang Juni auf. Die Rundfunkanstalt gibt dem Widerspruch statt. 

Diese Bescheide aus der Maschine existieren für die Mandantin nicht mehr, damit gibt es im Moment nichts, was daraus vollstreckt werden könnte. Auch die Kosten für den Prozeß will der Sender übernehmen. Es sieht nach einem Sieg auf ganzer Linie aus, doch der HR handelt hier sehr geschickt. Er äußert sich nicht, warum er dem Widerspruch stattgibt. Der HR gibt zwar im Einzelfall klein bei, verhindert so aber auch ein Gerichtsurteil, auf das sich andere eindeutig berufen könnten. 

Beim Rundfunk agieren immer öfter Maschinen autonom. Sie entscheiden dabei über das Schicksal vieler Menschen – ob wir am Ende etwa in einer Vollstreckung landen oder nicht. Das ist schon seit Jahren der Normalfall, obwohl es diese Rechtsvorschrift dem Rundfunk erst seit Juni 2020 gestattet. Es geht um Milliarden, bald soll die Zwangsabgabe wieder erhöht werden und nun halten nicht einmal mehr die Gesetze Schritt. 

Wie kann das sein? Die Gerichtsposse hat eine bizarre Vorgeschichte. Paragraph 10a wurde eigens und erst im nachhinein für die ARD geschrieben. Selbst die Politik war überrascht und hat damit das reibungslose Funktionieren der Kölner Inkasso-Maschine abgesichert. Was nicht paßte, wurde eben passend gemacht. Blicken wir auf den Lobbyismus des Rundfunks; das passierte vor zwei Jahren in den Hinterzimmern der Macht: Hermann Eicher ist der Justitiar des Südwestrundfunks (SWR) und in der ARD federführend für den Rundfunkbeitrag. Am 21. Februar 2018 findet ein Treffen in Hannover statt. 

Eicher spricht dort, die Rundfunkreferenten der Bundesländer sind da und hören zu. Eicher „informiert“ über „das bei den Anstalten übliche Verfahren des Erlassens automatisierter Bescheide“. Dieses „Verfahren“ solle „transparent normiert“ werden. Es soll also Gesetz werden. Die Staatskanzlei des Landes Brandenburg erklärt, in den Bundesländern werde das vollständig automatisierte Erlassen solcher Bescheide „uneinheitlich“ umgesetzt. „Angesichts ... daraus möglicherweise resultierender Rechtsstreitigkeiten empfahl Herr Dr. Eicher eine zügige Anpassung des Rundfunkbeitragsstaatsvertrags.“ Die ARD weiß damals, daß ihre Praxis noch nicht „transparent normiert“ ist. Muß sie ihre Praxis dann nicht ruhen lassen? Muß die Politik ihre Bürger nicht darüber aufklären? Es sind über 40 Millionen Menschen vom Rundfunkbeitrag betroffen. 

Viele hätten also seit Jahren gegen die Anstalten einen Prozeß führen und auch gewinnen können – aber niemand wußte davon. Die „möglichen Rechtsstreitigkeiten“ für die ARD bleiben unter dem Radar. Den meisten Menschen entgeht auch, daß die Politik der ARD ihren Wunsch erfüllte. Der nagelneue Paragraph 10a passiert 2019 leise und störungsfrei alle Landesparlamente. Er erlaubt dem Rundfunk, vom Juni 2020 an explizit Bescheide aus der Maschine zu fertigen. 

Wie viele Vollstreckungen waren berechtigt?

Die Paragraphen-Posse hat nicht nur eine bizarre Vorgeschichte, sie kann auch zur juristischen Tragödie werden. Allein in den vergangenen drei Jahren schob der Beitragsservice knapp 3,7 Millionen Mal die Zwangsvollstreckung an. Millionen Menschen wurden dabei in den behördlichen Schraubstock gespannt. 

Viele wurden mit Lohn-, Renten- oder Kontopfändungen überzogen oder gar mit Haftbefehlen bedroht. Alle dürfen sich heute fragen: Ging es bei mir mit rechten Dingen zu? Schließlich bilden diese Bescheide die Rechtsgrundlage. Mit Hilfe der Papiere setzt der Rundfunk fest, wieviel Beitrag wir ihm schulden. Wenn wir nicht zahlen, dann wird der Bescheid vollstreckt. Ist er aber rechtlich nicht einwandfrei – weil etwa in einem Bundesland Maschinen noch keine Bescheide schreiben durften –, dann war dieses Papier angreifbar, dann konnte es auch nicht mehr einfach so vollstreckt werden. 

Der Anwalt Thorsten Bölck sieht weitreichende Konsequenzen: „Nun ist es aber so, daß in Hessen viele Bescheide des Hessischen Rundfunks vollstreckt werden. In allen diesen Fällen fehlt es an der gesetzlichen Voraussetzung für die Vollstreckung nach Paragraph 18 des Hessischen Verwaltungsvollstreckungsgesetzes, so daß alle zur Zeit durch die Vollstreckungsbehörden stattfindenden Maßnahmen rechtswidrig sind.“

Das gilt dann nicht nur für Hessen, sondern auch für die übrigen Länder. Sie schreiben jeweils ein eigenes Verwaltungsverfahrensgesetz, das dann gleichwertig neben dem des Bundes steht und für die jeweilige Landesrundfunkanstalt maßgebend ist. Hessen und Nordrhein-Westfalen haben den Paragraphen 35a für sich übernommen. Er fordert eine Rechtsvorschrift für Maschinen-Bescheide. In Bremen und Bayern fehlt aber dieser Paragraph 35a. Sachsen und Niedersachsen leisten sich sogar nur ein Rumpfgesetz. Es wird ein Flickenteppich geknüpft. 

In allen Ländern muß es aber einen Verwaltungsakt geben, der vollstreckt werden kann. Der Bescheid aus der Maschine gilt erst dann als Verwaltungsakt, wenn das „vollständig automatisierte Erlassen“ per Gesetz erlaubt ist. Die ARD befürchtete „Rechtsstreitigkeiten“. Deshalb bat sie 2018 die Politik um einen eigens für den Rundfunk geschaffenen Paragraphen. Nun bringt der Fall in Hessen doch noch ans Licht, was den Bürgern offenbar entgehen sollte. Momentan werden Millionen alte Rundfunkbescheide aus den Jahren 2017, 2018 und 2019 vollstreckt. Es stellt sich also eine berechtigte Frage: Ist das bloß ein Gerichtsprozeß oder bereits ein Politikum?

Markus Mähler: AbGEZockt. FinanzBuch Verlag, 2020, gebunden, 352 Seiten, 17,49 Euro






Markus Mähler ist Diplom-Journalist und Politikwissenschaftler. Er betreibt auf seiner Homepage www.markus-mähler.de einen Blog.