© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/20 / 21. August 2020

Vorentscheidung des Krieges
Mars-la-Tour, Vionville und Gravelotte: Westlich von Metz gelang es den deutschen Truppen im August 1870 mit hohen Verlusten, die starken, aber unorganisierten und verzagten Franzosen zu schlagen
Dag Krienen

Als am 19. Juli 1870 Napoleon III. dem Königreich Preußen den Krieg erklärte, glaubten nicht nur die Franzosen an einen baldigen Sieg über ihren Rivalen jenseits des Rheins. Auch im übrigen Europa wurden ihre Chancen nicht als schlecht eingeschätzt, verfügte das Land doch über eine starke Armee von fast 400.000 Berufssoldaten, die in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten reichlich Erfahrung auf den Schlachtfeldern gemacht hatten und durch gut 100.000 Reservisten sowie durch 400.000 Mann allerdings mangelhaft ausgebildete „Mobilgarden“ ergänzt werden konnten.

Seine ursprüngliche Absicht, durch einen schnellen Vorstoß seiner Kernarmee die süddeutschen Staaten vom Norddeutschen Bund zu trennen, mußte Napoleon III. allerdings aufgeben. Die Mobilmachung der französischen Armee verlief chaotisch, die Einheiten wurden unaufgefüllt zur Grenze geschickt, während die nachgesandten Reservisten sowie wichtiges Material ihr Ziel oft nicht oder nicht rechtzeitig erreichten. Auf deutscher Seite hingegen liefen aufgrund der engen Zusammenarbeit von preußischem Generalstab und Eisenbahnverwaltung Mobilmachung und Aufmarsch nahezu reibungslos ab. 

Anfang August standen so fast 450.000 Soldaten aus den deutschen Staaten an der Grenze bereit, während die Franzosen nur etwa 250.000 konzentrieren konnten. Im Raume Metz marschierte die französische „Rheinarmee“ unter Marschall François-Achille Bazaine auf, im Elsaß eine zweite Gruppe unter Marschall Patrice de MacMahon. Die verbündeten deutschen Truppen wurden zu drei Armeen formiert. Diese rückten ab dem 4. August vor. Im Elsaß kam es noch am selben Tag bei Weißenburg zur ersten Schlacht und zum ersten deutschen Sieg des Krieges. Zwei Tage später schlug die Dritte Armee MacMahons Truppen bei Wörth noch deutlicher. An diesem 6. August gelang auch der Ersten Armee unter General Karl Friedrich von Steinmetz bei Spichern ein Erfolg über Teile der „Rheinarmee“. 

Militärische Initiative lag schnell bei den Deutschen

In allen drei Fällen handelte es sich allerdings nur um „ordinäre Siege“, bei denen die angreifenden deutschen Truppen zudem im Feuer der dem Zündnadelgewehr in der Reichweite deutlich überlegenen neuen Chassepot-Gewehre schwere Verluste erlitten. Die Franzosen wurden durch die technisch und taktisch überlegene preußische Artillerie jedoch in Schach gehalten und schließlich durch das Eingreifen selbständig handelnder weiterer deutscher Einheiten aus ihren Stellungen herausmanövriert, während die französischen Führer Eigeninitiative vermissen ließen. Dieses Schema sollte auch die weiteren Schlachten im August prägen.

Die Niederlagen in den drei Grenzschlachten hatten für die französische Seite gravierende Folgen. Die militärische Initiative lag nun auf deutscher Seite. Aus Frankreichs Feldzug zum Rhein wurde ein Krieg zur Verteidigung des Landes. Die französischen Truppen im Elsaß wurden abgezogen und per Eisenbahn nach Châlons an der Marne transportiert, um dort mit der Armeereserve und neuen Truppen zu einer neuen Armee formiert zu werden. 

Bazaines noch intakte Rheinarmee zog sich auf die gut ausgebaute Festung Metz zurück. Dort besaß sie mangels einer Bahnlinie nach Verdun keine Möglichkeiten, die geplante Vereinigung mit der Châlons-Armee rasch zu realisieren und mußte in konventionellen Fußmärschen weiter nach Westen ziehen. Am 14. August griffen indes Vorhuten der Ersten Armee noch östlich von Metz bei Colombey-Nouilly die Nachhutdivisionen der Franzosen an. Diese ließen sich dazu verleiten, eine Schlacht zu liefern. Taktisch gelang ihnen zwar ein Abwehrerfolg. Allerdings kostete dieser die Rheinarmee einen vollen Marschtag in Richtung Westen. 

Zur gleichen Zeit überquerte die deutsche Zweite Armee unter dem Prinzen Friedrich Karl südlich von Metz die Mosel, um auf Weisung des preußischen Generalsstabschefs Helmuth von Moltke die Rheinarmee an der Vereinigung mit der Châlons-Armee zu hindern. Der Prinz überschätzte indes das Tempo der Franzosen und ließ die Masse seiner Armee in Richtung Verdun an die Maas vorstoßen. Als ihm feindliche Truppenansammlungen im Gebiet knapp westlich von Metz gemeldet wurden, gab er – im Glauben, daß es sich nur um die Nachhut von Bazaines abziehender Armee handle – seinem zurückhängenden rechten Flügel die Weisung, diese Nachhut anzugreifen. Tatsächlich aber stießen am 16. August zwei schwache Kavalleriedivisionen und das III. Korps unter General Constantin von Alvensleben auf fast die komplette, noch nicht weiter nach Westen gekommene Rheinarmee.

Die nun folgende Schlacht von Mars- la-Tour und Vionville wurde vor allem durch den Entschluß von Alvenslebens geprägt, trotz der Konfrontation mit einer dreifachen Übermacht zum Angriff überzugehen. Erneut litten die Preußen im französischen Gewehrfeuer schwer. Viele Bataillone verloren fast alle ihre Offiziere, setzten den Kampf aber weiter fort. Erleichterung erhielten sie erst am Nachmittag durch das aus nordwestlicher Richtung anrückende preußische X. Armeekorps. Gemessen an den Kräfteverhältnissen hätten die Franzosen die Schlacht dennoch eigentlich für sich entscheiden müssen. 

Hinter den selbstmörderischen Angriffen des einsamen Korps Alvensleben vermutete Bazaine indes das Anrücken einer ganzen deutschen Armee. Große Teile seiner Truppen ließ er deshalb untätig in der Reserve verharren. Zudem fehlte ihm und seinen Unterführern die Entschlossenheit, die sehr guten Chancen zu nutzen, Alvensleben durch entschiedene Angriffe völlig zu überwältigen. Am Abend räumte Bazaine das Schlachtfeld und zog sich in Richtung Osten zurück. Taktisch endete die Schlacht mit Verlusten von jeweils 15.000 bis 17.000 Mann unentschieden. Strategisch war es ein deutscher Sieg: Der Marsch Bazaines nach Westen war aufgehalten worden.

Zwei Tage später erhielt der Marschall noch eine Chance, die Lage zu wenden. Die Rheinarmee bezog westlich von Metz eine ausgedehnte, sehr starke Defensivstellung. Dort hoffte er einen Abwehrsieg zu erringen, um danach nach Westen abzumarschieren und sich mit der Armee MacMahons zusammenzuschließen. Zunächst schienen sich seine Hoffnungen zu erfüllen, denn Moltke hatte die Ausdehnung der französischen Stellungen nach Norden unterschätzt. 

Das zur Flankierung angesetzte preußische Gardekorps stieß am 18. August frontal gegen die sehr gut ausgebauten Stellungen bei St. Privat. Erneut erlitt die deutsche Infanterie in der Schlacht von Gravelotte hohe Verluste und konnte bis zum Abend auch an anderen Stellen der Front keine Durchbrüche erzielen. Erst bei anbrechender Nacht gelang den Sachsen des XII. Armeekorps der Einbruch in den nördlichen französischen Flügel. Der erneut wie seine Truppenführer wenig Initiative zeigende Bazaine sah nun seine gesamte Stellung in Gefahr, räumte in der Nacht das Schlachtfeld und ließ seine Armee endgültig in die Festung Metz zurückgehen. Dort ergab er sich, ausgehungert, Ende Oktober.

Mars-la-Tour und Gravelotte als Wendepunkt des Krieges

Die Schlachten von Mars-la-Tour und Gravelotte bildeten vielleicht noch mehr als die Schlacht von Sedan einen Wendepunkt des Krieges. Ein Durchschlagen der Rheinarmee nach Westen und ihre Vereinigung mit der Châlons-Armee, unter Umständen sogar unter Zerschlagung ein oder zwei deutscher Armeekorps, hätte Napoleon III. noch einmal die Möglichkeit zu einer beweglichen Verteidigung ostwärts von Paris verschafft. Doch nun stand der Kaiser unter dem Druck, wollte er seinen Thron behalten, auf jeden Fall mit seiner verbliebenen Armee in der Champagne die eingeschlossenen Truppen Bazaines in Metz zu befreien. Dabei lief er in die Falle von Sedan hinein.

Auch andere französische Hoffnungen lösten sich nach den verlorenen August-Schlachten in Luft auf. Schon nach den Niederlagen in den Grenzschlachten hatte Wien seine ohnehin nur halbherzige Rüstung eingestellt. Auch die Hoffnungen auf einen eventuellen Kriegseintritt Dänemarks mußte Paris begraben. Um die Dänen dazu zu ermuntern, hatte die der Marine des Norddeutschen Bundes weit überlegene französische Flotte geplant, 40.000 Mann an der deutschen Küste anzulanden. Am 23. August wurde das Unternehmen abgeblasen, da man die dafür vorgesehenen Truppen dringend in Frankreich brauchte. Ende September wurden auch die französischen Blockadekräfte in Nord- und Ostsee abgezogen, weil man die Schiffsbesatzungen an der Landfront verwenden wollte. 

Die Schlachten westlich von Metz führten allerdings auch zu einer Wende in der preußischen Infanterietaktik. Der von den hohen Verlusten unter seinen Soldaten „geknickte“ König Wilhelm erließ am 21. August den Befehl, die eigenen Verluste durch bessere Ausnutzung des Terrains, geeignetere Formationen und gründlichere Vorbereitung zu verringern. Durch sprungweises Vorgehen der Infanterie in aufgelockerten Formationen und unter Anpassung an das Gelände sowie durch verbesserte Zusammenarbeit mit der Artillerie konnten in der Folgezeit tatsächlich die deutschen Verluste deutlich verringert werden. Rund 58.000 der gesamten deutschen Kriegsverluste in Höhe von 144.000 Mann, also vierzig Prozent aller Toten, Verwundeten und Vermißten in über sechs Kriegsmonaten, waren nämlich allein in den zwei Wochen vom 4. bis zum 19. August 1870 zu beklagen gewesen.