© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

Ker, getz hömma, geh mich wech!
Nordrhein-Westfalen: Bei den anstehenden Kommunalwahlen drohen der SPD herbe Niederlagen in ihrer früheren Herzkammer
Karsten Mark


Es wirkt fast so, als wolle niemand allzuviel Aufmerksamkeit erregen – darauf, daß in gut zwei Wochen die Kommunalwahlen anstehen in Nord-rhein-Westfalen. Politische Beobachter warten gespannt darauf. Schließlich wird sonst weit und breit nirgendwo mehr gewählt in diesem Jahr. Da gerät sogar eine Kommunalwahl bundesweit in den Fokus. „Vor Ort“, wie man im Ruhrgebiet mit seiner langen Bergbau-tradition zu sagen pflegt, ist das völlig anders. Selbst in den Lokal- und Regionalzeitungen, dem letzten Hort lokaler Politikdebatten, findet der Wahlkampf kaum statt. Die Corona-Krise dominiert die Themensetzung. Und nicht einmal die Ferienzeit mit dem unvermeidlichen Sommerloch vermochten die Parteien zu nutzen, um ihren Wahlkampf voranzutreiben. Auf der Straße läßt sich mit Abstandsregeln und Maskenpflicht zur Zeit ohnehin nicht viel reißen.
So hängen an den Laternenpfählen nun die Wahlplakate und präsentieren Kandidaten, von denen die Bürger oft noch nie etwas gehört haben. Karin Welge in Gelsenkirchen, die vermutlich aussichtsreichste Kandidatin von der SPD, ist so ein Fall. Wer in den vergangenen Jahren aufmerksam die Politik in der Heimat des FC Schalke 04 verfolgt hat, weiß, daß Welge als Kämmerin die seit langem desolate Finanzlage der Stadt gemanagt hat, die in fast allen Wirtschaftsranglisten regelmäßig ganz unten landet. Viele wissen das freilich auch nicht. Von einst drei Lokalzeitungen ist nur noch eine einzige übriggeblieben, und deren Auflage ist seit vielen Jahren im ständigen Sinkflug begriffen. Das öffentliche Interesse an der Lokalpolitik dürfte aktuell an einem Tiefpunkt angekommen sein.

Konkurrenz ist dicht auf den Fersen

Und Welges Partei, die SPD, hat die Verwaltungsfachfrau, die 2011 aus dem kleinen niederrheinischen Xanten an die Emscher kam, um ihre Karriere voranzutreiben, in der Vergangenheit nicht unbedingt auf ein Podest gehoben. Frank Baranowski heißt die einzige verbliebene Lokalgröße der SPD in der einstigen „Stadt der tausend Feuer“, die schon lange verloschen sind. Seit 2004 ist der Oberbürgermeister im Amt. Er folgte dem einzigen CDU-Mann, dem es jemals gelungen war, an die Stadtspitze der SPD-Hochburg Gelsenkirchen zu gelangen: Oliver Wittke, dem späteren NRW-Verkehrsminister und Generalsekretär seiner Landespartei. Wittkes Karriere hatte es keineswegs geschadet, zügig wieder wegzukommen aus Gelsenkirchen.

Baranowski findet nun, 16 Jahre an der Spitze des Gelsenkirchener Rathauses seien für ihn genug. Aus seiner öffentlichen Stellungnahme klingen unüberhörbar Amtsmüdigkeit, aber auch ein Hadern mit der eigenen Partei: „Dabei hat auch die Entwicklung der SPD noch einmal eine Rolle gespielt“, schreibt der 58jährige etwas kryptisch. Mit seinem Pessimismus steht Baranowski offenbar nicht alleine da. Kein ehrgeiziges SPD-Urgestein schickte sich mehr an, seine Nachfolge anzutreten. Karin Welge erhielt als Kandidatin 100 Prozent der Stimmen ihrer Genossen. Bei der SPD ahnt man wohl: Da ist nicht mehr so richtig viel zu holen bei der kommenden Wahl. Bei der Europawahl reichte es 2019 gerade noch für 25,7 Prozent der Stimmen. Das waren immer noch die meisten für eine Partei. Doch die Konkurrenz war der SPD bereits dicht auf den Fersen: Die CDU erreichte fast 20 Prozent, die AfD 16,4 und die Grünen 15,6.

Um den Niedergang der Sozialdemokratie an Ruhr und Emscher zu verfolgen, lohnt ein Blick in Gelsenkirchens Nachbarstadt Essen, die aktuell von einem CDU-Oberbürgermeister bei rot-schwarzer Koalition im Stadtrat geführt wird. Wirtschaftlich steht Essen nicht ganz so schlecht da wie Gelsenkirchen. Dennoch gibt es genug negative Schlagzeilen aus der ehemaligen Heimat des Krupp-Stahls. Essen gilt etwa als NRW-Hauptstadt der Clankriminalität. Mit immer neuen Großrazzien ist NRWs Innenminister Herbert Reul (CDU) bemüht, dem zunehmenden Eindruck des politischen Kontrollverlusts etwas entgegenzusetzen – mit bislang eher überschaubarem Erfolg. Immerhin halten Reuls öffentlichkeitswirksame Aktionen das Thema auf der politischen Agenda. Die rot-grünen Vorgängerregierungen hatten die türkisch-libanesische Clankriminalität, die aktuell durch eingewanderte Banden aus Syrien und dem Irak ganz neue Dimensionen erreicht, jahrzehntelang tabuisiert und totgeschwiegen.

Essen ist bei jeder dieser Razzien ein Schwerpunkt. Besonders im armen Norden der Stadt ist unübersehbar, daß die Migrationspolitik dort völlig aus dem Ruder gelaufen ist, während sich der grüne Stadtsüden immer weiter zu einem teuren Pflaster entwickelt.

Zwei langjährige Sozialdemokraten, die die wachsenden Parallelgesellschaften in ihren nördlichen Stadtteilen angesprochen haben und letztlich an ihrer Partei gescheitert sind, sind der frühere Bergmann Guido Reil und Karlheinz Endruschat, ein ehemaliger Sozialarbeiter und Bewährungshelfer. Während Reil schon 2016 nach 26 Jahren in der SPD zur AfD übergetreten war und mittlerweile für seine neue Partei im Europaparlament sitzt, haderte Endruschat, der sogar stellvertretender Vorsitzender der Sozialdemokraten in Essen gewesen war, noch bis Anfang dieses Jahres, bevor auch er die SPD nach 15 Jahren Mitgliedschaft verließ. Endruschat beklagt die Gefahr einer „Muslimisierung“ ganzer Stadtteile und eine Politik des „Nicht-sehen-Wollens“ bei der SPD. „Die SPD hat kein Interesse, die Probleme um die Zuwanderung auch nur anzuerkennen“, sagte er gegenüber dem Focus.
Die Führung seiner Partei reagierte demonstrativ uninteressiert auf Endruschats Parteiausstritt – sowohl was den einstigen Essener Parteifreund und Ex-Justizminister Thomas Kutschaty angeht, der aktuell die SPD-Fraktion im Düsseldorfer Landtag anführt, als auch den Bundesvorsitzenden und ehemaligen nordrhein-westfälischen Finanzminister Norbert Walter-Borjans. „Es treten jeden Tag Leute in die Partei ein und aus“, kommentierte die zweite Bundesvorsitzende Saskia Esken.

Abwanderung ins grün-alternative Lager

Unterdessen droht der Sozialdemokratie nicht nur der Schwund nach rechts, sondern vor allem ins grün-alternative Lager. Durch die geschickt lancierte Klimawandel-Debatte erreichten die Grünen bei der Europawahl 2019 bis dahin unerreichte 23,2 Prozent in Nord-rhein-Westfalen – nach schlappen 6,4 Prozent bei der Landtagswahl 2017. In den Universitätsstädten Bielefeld, Bonn, Bochum, Dortmund, Düsseldorf, Köln und Wuppertal wurden sie sogar die stärkste Kraft. Berührungsängste löst die grüne Stärke bei den Sozialdemokraten aber offenbar nicht aus: In Bochum, Solingen und Remscheid unterstützen die Grünen den SPD-Kandidaten zur Wahl des Oberbürgermeisters. In Bochum, so wird gemunkelt, habe es hinter den Kulissen auch Gespräche mit der CDU gegeben – allerdings ohne Erfolg. Allein in Wuppertal unterstützt die CDU mit dem Leiter des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie, Uwe Schneidewind, einen grünen Kandidaten.

Die Grünen plagt ein ähnliches Problem wie die AfD: Ihnen mangelt es vielerorts an geeignetem Personal. Besonders die AfD hatte mit skurrilen bis zwielichtigen Kandidaten auf ihren Wahllisten zu kämpfen, die kein gutes Licht auf die Partei warfen. In Düsseldorf etwa machte ein Parteimitglied als „Macheten-Mann“ bizarre Schlagzeilen in der Boulevardpresse, weil er unter anderem Sträucher in einem Park rodete und dafür sogar verurteilt wurde. Seine Kandidatur für den Stadtrat zog er schließlich zurück. Der AfD-Kreisvorstand in Mülheim an der Ruhr hingegen hält weiterhin an einem Schriftführer fest, der noch vor wenigen Jahren Mitglied bei der Rockerbande „Bandidos“ war.
So könnte sich in einigen Städten letztlich eine Warnung des Ex-Sozialdemokraten Endruschat bewahrheiten: Wenn die AfD ihre offen rechtsradikale Minderheit rausschmeißen würde, sagte Endruschat noch im Januar, könnte sie CDU und SPD noch weit gefährlicher werden. Für ihn selber, betonte er, sehe er die AfD allerdings nicht als neue politische Heimat. Im Essener Stadtrat hat er sich mittlerweile einem sozialliberalen Bündnis angeschlossen.