© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

Terror im Feierabendverkehr
Anschlag auf der Autobahn: Abgelehnter Asylbewerber verletzt sechs Menschen
Peter Möller


War es ein Unfall? Eine Amokfahrt? Oder doch ein Anschlag? Die Nachrichtenlage am Dienstagabend vergangener Woche war äußerst verwirrend. Klar war zunächst nur, daß die Berliner Stadtautobahn A 100 mitten im Feierabendverkehr komplett gesperrt wurde und Tausende Berliner teilweise stundenlang im Stau standen.

Mittlerweile steht für die Behörden fest: Der 30 Jahre alte Iraker Sarmad A. hatte kurz vor 19 Uhr mit seinem Auto an drei Stellen der vielbefahrenen Stadtautobahn absichtlich Fahrzeuge gerammt, darunter zwei Motorräder und einen Roller. Dabei wurden sechs Menschen verletzt, drei davon schwer. Nachdem sein Auto auf der Autobahn zum Stehen gekommen war, stellte der Mann eine Munitionskiste auf sein Fahrzeug, rollte einen Gebetsteppich auf der Fahrbahn aus und begann zu beten. Nach der Festnahme durch einen Arabisch sprechenden Streifenpolizisten stellte sich heraus, daß die Kiste lediglich Werkzeug enthielt.

Gegen den Mann, der mittlerweile in der geschlossenen Psychiatrie untergebracht ist, wird nun wegen versuchten Mordes in mindestens drei Fällen ermittelt. Da Behörden von einer islamistischen Tat ausgehen, hat die Generalstaatsanwaltschaft Berlin die Ermittlungen übernommen. Kurz vor der Tat hatte der Attentäter auf Facebook ein Foto gepostet, das ihn neben einem schwarzen Opel Astra mit Berliner Kennzeichen zeigt, dem späteren Tatfahrzeug. In dem dazugehörigen arabischen Text heißt es, er wolle am Freitag Palästina betreten. Zudem schrieb er „Allahu akbar“ (Gott ist groß) und das Wort „Märtyrer“. Andere Facebook-Nutzer posteten unter dem Beitrag von Sarmad A. arabische Segenswünsche.
Der Fall wirft viele Fragen auf, denn Sarmad A., der nach eigenen Angaben aus dem Irak stammt, aber 2016 ohne Papiere über Finnland nach Deutschland eingereist war, hätte das Land eigentlich schon längst verlassen müssen. Bereits 2017 war sein Asylantrag abgelehnt worden. Und eine weitere Frage drängt sich auf: Warum hatten die Behörden den Mann, der bereits als gewalttätig auffällig geworden war, nicht auf dem Schirm?

Nach Einschätzung von Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) sei die Tat nicht zu verhindern gewesen. Zwar habe Sarmad A. vor längerer Zeit Kontakte zu einem polizeibekannten Gefährder gehabt und sei auch selbst wegen Körperverletzung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Erscheinung getreten, dies habe aber beispielsweise keine elektronische Fußfessel rechtfertigen können. Bei dem gewalttätigen Vorfall 2018 hatte er unter anderem auch Polizisten bedroht. Das Verfahren endete allerdings mit einem Freispruch wegen phasenweiser Schuldunfähigkeit, wie Generalstaatsanwältin Margarete Koppers in der vergangenen Woche im Rechtsausschuß des Abgeordnetenhauses mitteilte. Schon damals war Sarmad A. für kurze Zeit in der Psychiatrie.

Ausreisepflichtig, aber geduldet

Eine Abschiebung des abgelehnten Asylbewerbers in den Irak sei nach Einschätzung von Geisel nicht möglich gewesen, weil in das Bürgerkriegsland nur in wenigen Ausnahmefällen abgeschoben werde. Die Behörden hätten rechtsstaatlich gehandelt, ist der Innensenator daher überzeugt.

Nach Angaben der Innenverwaltung hat der Angreifer vor dem Anschlag außerhalb des Blickfeldes der Sicherheitsbehörden agiert. Ein Sprecher der Innenverwaltung sagte in der vergangenen Woche, es habe keine Staatsschutz-erkenntnisse und keine Anzeichen für eine Radikalisierung gegeben. „Der Staatsschutz hat ihn zwar als einen Bekannten eines Gefährders hier in Berlin registriert“, berichtete Geisel. Sie hätten gemeinsam in einem Wohnheim gelebt. A. selbst war aber bislang nicht als Gefährder gelistet, eine Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung konnte bislang nicht nachgewiesen werden. Der Mann habe vermutlich allein gehandelt. „Nach gegenwärtigen Erkenntnissen gibt es kein Netzwerk, das im Hintergrund arbeitet, aber wir werden sehen, was da noch an Ermittlungsergebnissen kommt“, sagte der Innensenator. „Klar ist aber, Berlin ist im Fokus solcher terroristischen Anschläge.“ Es gebe keinen Grund für Entwarnung. „Deshalb sind wir gut beraten, unsere Sicherheitsbehörden so aufzustellen, daß solche Anschläge, sollten sie von Netzwerken geplant werden, möglichst abgewehrt werden können.“

In der ersten parlamentarischen Sitzungswoche nach der Sommerpause wird sich auch der Innenausschuß des Bundestages am 9. September mit dem Fall befassen. Dabei dürfte das Problem der mittlerweile mehr als 270.000 ausreisepflichtigen Ausländer in Deutschland eine wichtige Rolle spielen. Denn über 220.000 von ihnen sind, wie Sarmad A., dennoch geduldet und werden nicht abgeschoben. Vor allem dürfte dabei der Umstand zur Sprache kommen, daß zwar bereits Tausende Flüchtlinge freiwillig in den Irak zurückgekehrt sind, Deutschland aber aufgrund der Einschätzung des Auswärtigen Amtes abgelehnte Asylbewerber unter Verweis auf die angeblich fragile Sicherheitslage nur bei schweren Straftaten in das Land abschiebt.
Unterdessen haben Berliner Feuerwehrleute für einen bei dem Attentat schwer verletzten Kollegen, der mit einem Roller auf dem Weg nach Hause war und am Kopf und der Wirbelsäule verletzt wurde, eine Spendenaktion gestartet. Bereits in den ersten zwei Tagen sind knapp 29.000 Euro zusammengekommen.