© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

Die große deutsche Revolution
150 Jahre Nationalstaat: Spätestens mit dem Sieg von 1870/71 ging es nicht mehr um ein „Großpreußen“, sondern um die nationale Einheit
Karlheinz Weißmann


Der Gedanke geht der Tat voraus wie der Blitz dem Donner“, heißt es in Heinrich Heines Abhandlung „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“. Und weiter: „Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft tot niederfallen, und die Löwen in den fernsten Wüsten Afrikas werden sich in ihre königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.“

Veröffentlicht wurde der Text 1834. Man kann ihm einen anderen zur Seite stellen, wenige Sätze aus einer Parlamentsrede des britischen Premiers Benjamin Disraeli, die er unmittelbar nach dem Sieg der deutschen Truppen 1871 gehalten hat: „Dieser Krieg bedeutet die deutsche Revolution, ein Ereignis von größerer Bedeutung als die Französische des vergangenen Jahrhunderts.“
Obwohl Heine wie Disraeli betonte, daß die „Deutsche Revolution“ die Französische überbiete, unterschieden sich ihre Vorstellungen deutlich. Denn für Heine ging es um den Einfluß der intellektuellen Strömungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Seiner Meinung nach schufen sie die Grundlage für eine besondere Art gesellschaftlicher Umwälzung. Disraelis Augenmerk war dagegen auf den handgreiflichen Machtzuwachs Preußens gerichtet, das eben nicht nur militärisch triumphiert, sondern mit drei „Einigungskriegen“ die Grundlage für einen neuen Staat im Zentrum Europas geschaffen hatte. Was Heines Prognose betraf, so zehrte sie von seiner Sicht auf die Gärung, die die Folge von Romantik und Idealismus waren. Sie mochten auf den ersten Blick politikfern oder politikfremd erscheinen, aber sie flossen doch in einer „Deutschen Bewegung“ zusammen, deren Anhänger der Glaube einte, daß das Nationalbewußtsein in der Menge verankert und die Zersplitterung Deutschlands überwunden werden müsse.

Deshalb sollte es kein Zurück zum „Unstaat“ (Georg Friedrich Wilhelm Hegel) des Heiligen Römischen Reiches geben, das 1806 ruhmlos aus der Geschichte verschwunden war. Man hielt vielmehr etwas radikal Neues für nötig, die Schaffung eines starken Nationalstaates, der nicht nur verhindern würde, daß Deutschland der Kampfplatz der Völker Europas blieb, sondern auch den traditionellen Vorrang Österreichs in Frage stellte. Angesichts der Niederlage Napoleons entwarf der Freiherr vom Stein den Plan eines Gesamtdeutschlands, das von Preußen aus zu organisieren war und dessen Aufbau über die Rechte der einzelnen Fürsten – der „Kleintyrannen“, wie er sie abschätzig nannte – rücksichtslos hinweggehen sollte. Geworden ist daraus nichts, so wenig wie aus den anderen Projekten derer, die man „Patrioten“ nannte. Aber der Verlauf der Befreiungskriege von 1813 bis 1815 ließ doch etwas ahnen von der Vehemenz, mit der sich eine neue Art von Vaterlandsliebe, zuerst unter den Gebildeten, aber nach und nach auch im Volk selbst verbreitete. Der einfache Mann lernte, daß er eben nicht nur Untertan irgendeiner Durchlaucht, irgendeines Hochwohlgeborenen, irgendeiner Majestät und Österreicher, Preuße, Bayer, Badener oder ein Bürger der Freien Reichsstadt Frankfurt sei, sondern auch ein Deutscher.

Weshalb man im „Vormärz“ durchaus meinen konnte, daß Heines Prophezeiung in Erfüllung gehen werde mit der Zerstörung des Systems, das der Wiener Kongreß errichtet hatte. Die öffentliche Meinung war je länger je mehr überzeugt, daß ein Umsturz bevorstehe, damit den Deutschen gegeben werde, was auch die Italiener, Iren, Polen, Tschechen für sich verlangten und was offenbar im Zug der Zeit lag: ein nationaler Verfassungsstaat.
Als 1848 die „Märzrevolution“ den Vormärz beendete, schien es für einen Augenblick, daß dieses Ziel in greifbare Nähe gerückt sei. Aber die Liberalen als die wichtigsten Träger der Revolution zeigten sich der Herausforderung nicht gewachsen. Dafür gab es verschiedene Ursachen, aber die wichtigste war, daß sie die Wirklichkeit des Politischen nicht begriffen, „daß das Gesetz der Stärke über das Staatsleben eine ähnliche Herrschaft ausübt wie das Gesetz der Schwere über die Körperwelt“.
Die Feststellung stammte von einem Liberalen, August Ludwig von Rochau, der für die Ideen des Vormärz eingetreten war. Auch an der Revolution nahm er aktiven Anteil und ahnte früh deren Fehlschlag. Aber nach 1848 beklagte er nicht einfach das Scheitern an hochgesteckten Zielen, sondern unterzog jede „Idealpolitik“ einer scharfen Kritik. Ihr setzte er eine „Realpolitik“ entgegen, zu deren Kern die Einsicht gehörte, daß es in der Politik immer um Machtgewinn geht und darum, welcher Machtträger über die Machtmittel verfügt, um einen Machtgewinn zu sichern.

Nach Lage der Dinge gab es in Deutschland nur einen denkbaren Machtträger, der geeignet war, die nationale Einheit zu verwirklichen: Preußen. Dessen Charakter als Militärmonarchie erschwerte dem Liberalismus die Parteinahme zu seinen Gunsten. Aber die praktischen Schritte, die man in Berlin nach dem Zusammenbruch der Revolution zugunsten der (klein-)deutschen Einheit vollzogen hatte, legten sie trotz aller Vorbehalte nahe.
Der Gedanke einer solchen Allianz schien allerdings aussichtslos, als in den 1860er Jahren eine Verfassungkrise Preußen erschütterte. Der König und die Liberalen standen sich unversöhnlich gegenüber. Der König, weil er seinen Vorrang verteidigen wollte, die Liberalen, weil sie der Überzeugung waren, man müsse Preußen zuerst nach britischem Vorbild in eine parlamentarische Monarchie umformen und dann die Lösung der „Deutschen Frage“ in Angriff nehmen. Nachdem Bismarck das Amt des Ministerpräsidenten übernommen hatte, verteidigte er die „Prärogative“ des Königs und vor allem dessen Kontrolle über die Armee mit letzter Entschlossenheit. Seinen Gegnern im Landtag war er aber nicht nur aus diesem Grund verhaßt, sondern auch als „reaktionärer Junker“, der die Verfassung mit Füßen trat und aus seiner Überzeugung keinen Hehl machte, daß nicht durch „Majoritätsbeschlüsse … die großen Fragen der Zeit entschieden“ würden, „sondern durch Eisen und Blut“.
Wie bekannt, hat Bismarck die Liberalen in Erstaunen versetzt und nicht wenige bekehrt. Aber er hat auch seine Anhänger überrascht, viele schockiert. Die einen, weil Bismarck, der als Konservativer galt, im Zuge des Krieges gegen Österreich und dessen Verbündete eine ganze Reihe altehrwürdiger Staaten erledigte und sich eher amüsiert zeigte, angesichts der Bereitschaft, auf das hereinzufallen, was er den „Souveränitätsschwindel“ der Landesfürsten nannte. Die anderen, weil sie nicht mit dem rechneten, was sein Freund, der Kriegsminister Albrecht von Roon, Bismarcks „Verdeutschung“ nannte. Gemeint war damit, daß Bismarck die militärischen Erfolge von 1864, 1866 und 1870/71 offenbar nicht zur Schaffung eines „Großpreußen“ nutzte, sondern tatsächlich die nationale Einheit erstrebte. Die tiefere Ursache dafür ist wahrscheinlich in einer nebenher gemachten Äußerung Bismarcks zu finden, der mit Blick auf die Geschichtslektionen seiner Schulzeit meinte: „Jeder deutsche Fürst, der vor dem dreißigjährigen Kriege dem Kaiser widerstrebte, ärgerte mich, vom großen Kurfürsten an aber war ich parteiisch genug, antikaiserlich zu urteilen und natürlich zu finden, daß der siebenjährige Krieg sich vorbereitete.“
Bismarck meinte damit, daß der Niedergang des Kaisertums letztlich zu einem Legitimitätsverlust geführt habe. Es war eben nicht nur der Egoismus der Landesherren und nicht nur die Hausmachtpolitik der Habsburger, die dahin geführt hatten, daß das Reich ein „Monstrum“ wurde. Hier war politische Lebenskraft erloschen, und an die Stelle des Alten mußte etwas Neues treten.

Für Bismarck war Preußen dieses Neue, und die von Friedrich dem Großen gegen Österreich gerichtete Aggression deshalb berechtigt wie seine eigene Absicht, dem Dualismus zwischen Berlin und Wien ein Ende zu bereiten. Was nicht bedeutete, daß er mit der Reichsgründung von 1871 eine Art finalen Zustand der Geschichte erreicht zu haben meinte. Was deren „revolutionäre Unterlagen“ betraf, gab er sich keiner Illusion hin. Er wußte, daß Umbrüche zum Wesen der historischen Entwicklung gehören, die kein Verharren kennt, sondern dauernd in Bewegung ist. Das einzig Feste, das sich in diesem Fluß halten kann, war seiner Meinung nach die staatliche „Autorität“, wie er sie in Preußen verwirklicht sah, dem einzigen Staat, dessen König „auch dann noch Herr im Lande bleibe, wenn das gesamte stehende Heer aus demselben herausgezogen würde“.

Ohne Bismarck eine Theorie im genaueren Sinn unterschieben zu wollen, wird man seine Auffassung vom „konservativen“ Charakter der Reichsgründung nicht verstehen können, ohne diese besondere Verknüpfung von „Autorität“ und „Revolution“. Sie ähnelt in erstaunlichem Maß der Einschätzung, die der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt zu Beginn der 1870er Jahre getroffen hat. Nach Burckhardt war „die allgemeine Gefahr der politischen Lage von Europa“ eine Folge der Destabilisierung des älteren Staatensystems. Eine wesentliche Ursache dafür lag seiner Meinung nach im wachsenden Einfluß der Nationalbewegungen, und auch in Deutschland war zu beobachten, daß sich die nationale „Frage“ durch die liberale „durch fraß“. Als Folge hatte man es mit einem „Zustand voller Widersprüche“ zu tun, einer Krise, die durch die bürgerlichen Kräfte mit bürgerlichen Mitteln nicht zu bewältigen war, aber auch nicht gegen die „erwerbenden und räsonierenden Klassen“ bewältigt werden konnte. Letztlich mußte diese Krise „abgeschnitten“ werden durch das, was Burckhardt seinerseits die „große deutsche Revolution“ nannte, die typischerweise nicht von unten, sondern von oben gemacht worden war: durch „die preußische Regierung und Armee“.


Bild: Carl Röhling, “Ein gutes Omem bei Königgrätz, Bismarck trifft Moltke 1866“, Farbdruck von 1897: Nationale Einheit angestrebt