© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

Punktuelles Wiederauftauchen aus dem Ozean des Privaten
Verlorene Hegel-Handschriften

Die Briefstelle ist zum geflügelten Wort geworden: „den Kaiser – diese Weltseele – sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten – es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend über die Welt übergreift und sie beherrscht“. So beschreibt der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) seine kurze Begegnung mit Napoleon in Jena im Oktober 1806. Niemand weiß, wo sich dieser in die deutsche Geistesgeschichte eingegangene Hegel-Brief heute befindet. An der Überlieferungsgeschichte der vielzitierten Textstelle zeigen Eef Overgaauw, der Leiter der Handschriftenabteilung der Berliner Staatsbibliothek, und der Karlsruher Historiker Michael Matthiesen die ganze Problematik des Hegelschen Nachlasses auf (Zeitschrift für Ideengeschichte, 2/2020). Die Misere war schon 1889 absehbar, als Hegels greise Söhne der Staatsbibliothek nur einen Teilnachlaß übergaben, nachdem sie erhebliches Material zur Papiermühle gebracht hatten. Mit den übrigen 1943 nach Schlesien ausgelagerten Berliner Beständen gelangten auch Briefe an Hegel dorthin. Sie sind heute in Krakau zugänglich, aber ihre Rückgabe verweigert Polen. Briefe von Hegel tauchen zudem noch vereinzelt aus ominösen Quellen auf dem Antiquariatsmarkt auf, zuletzt 2019, zum Stückpreis von stolzen 35.000 Euro. Mindestens ein Brief fand zuvor bereits einen zahlungskräftigen Käufer „in Asien“. Der Wanderung von Nachlaßteilen, ihrem Verschwinden und punktuellen Wiederauftauchen aus dem Ozean des Privaten könne der Forscher nur mit Skepsis und Neugierde zuschauen. (ob)

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