© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

Dorn im Auge
Christian Dorn


Der Weg ins gelobte Land führt über die Autokorrektur des Outlook-Programms. So mutiert die „Mises-Konferenz“ in der Betreffzeile plötzlich zur Moses-Konferenz. Derweil streite ich mich mit einem Künstler, den ich aus dem „Café in der Sowjetzone“ kenne, über den Internet-Auftritt „Rubikon“, der nun wirklich den Rubikon überschreitet und mit seriöser Meinungsbildung nichts zu tun hat, auch wenn in bewährter linker Tradition die „Analyse und Kritik der herrschenden Verhältnisse“ beschworen wird. Während ET nur „nach Hause telefonieren“ wollte, will RT offenbar von der postsowjetischen Homebase alle Welt auf Kreml-Kurs bringen. Das könnte gleich bei dem kleinen Mädchen beginnen, das neben seinem Vater auf dem Gehweg akzentuiert ihr jüngst erlerntes Wissen rapportiert: „(…) weil die Chinesen Fledermäuse essen.“

Ortswechsel, Lübeck: In der Geburtsstadt Willy Brandts und Robert Habecks, beim nächtlichen Umtrunk in einem linksalternativen Straßenzug, höre ich neben mir den Hinweis auf drei Schwarze, die gerade die Straße überqueren: „Oh, drei Dunkeldeutsche!“ Ich kann nicht darüber lachen. Ist es überhaupt ein Witz? Bin ich vielleicht depressiv? Dann sähe ich wirklich schwarz – so wie die Kluft des neugierigen Antifa-Jünglings, der auf mich zukommt und wissen will, was für eine Gruppe wir seien und was uns nach Lübeck führe. Obwohl er Maschinenbau studiert hat und also logisch denken müßte (so mein Gedanke), weigert er sich, auf meine Argumentationen einzugehen: Beim Stichwort „Gender“ verweist er auf seinen Bruder, der das als Philosoph ganz anders sehe, beim Thema „Kuka“ (Ausverkauf deutscher Hightech-Industrie) entgegnet er: „Nein, die Chinesen haben­’s voll drauf.“ Ich gebe es auf. Aber daß ich mich verstellen muß, um nicht denunziert zu werden und die ganze Gruppe zu gefährden – ist das ein Zeichen von Diktatur oder von meiner Schauspielkunst? Oder beides?

Zur Abfahrt kaufe ich mir – in Erinnerung an Budapest, August 1989, wo ich ein „Holsten“-Bier erstanden hatte – eine Dose des nordeutschen Pils. Damals schrieb ich in mein Tagebuch zur Abgabe des leeren Pfandgut im „HO Flott“: „Meine erste Tat zur Wiederherstellung der Deutschen Einheit“. Als ich in den Lübecker Nachrichten den Artikel „Das deutsch-dänische Dosen-Dilemma“ über die Pfand-Ausnahmeregelung in der Grenzregion aufschlage, ruckt der Zug und meine geöffnete Bierdose fliegt in hohem Bogen auf den Boden und flutet das Abteil. Wenn das jetzt kein Beweis ist – wofür auch immer!