© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

In einer Welt des Zwielichts
Kino: Der Film „Tenet“ von Regisseur Christopher Nolan mischt Action
Dietmar Mehrens


Alfred Hitchcock, der legendäre Meister des Suspense, verwies auf das McGuffin als Grundessenz für Spannungskino. Was das sei, ein McGuffin? Hitchcock: „Ein McGuffin ist ein Gerät, mit dem man im schottischen Hochland Löwen fängt.“ Rückfrage: „Aber im schottischen Hochland gibt es doch gar keine Löwen.“ Antwort: „Tja, dann ist das auch kein McGuffin.“ Was die Regie-Legende damit sagen wollte: Wer einen großen Film machen will, muß ein großes Faß aufmachen. Und wenn sich am Ende herausstellt, daß da gar nichts drin war: halb so wild!

Christopher Nolan gehört zu den Filmemachern, deren neueste Werke von ihren Anhängern erwartet werden wie messianische Offenbarungen. Mit den innovativen erzählerischen Ansätzen, die er verfolgt, und dem philosophischen Mehrwert seiner Filme, der sich aus dem experimentellen Sprengen von Denkgrenzen und Sehgewohnheiten ergibt, hat sich der gebürtige Londoner etabliert als einer der ganz Großen des Filmgeschäfts. Immer wieder bricht Nolan mit unserer zeitlich-linearen Weltwahrnehmung. In „Memento“ (2000) erzählte er einen Film rückwärts, in „Inception“ (2010) ließ er die Welt kopfstehen, indem er Traum und Wirklichkeit ineinanderfließen ließ, in „Interstellar“ (2014) überwand er die Grenzen von Raum und Zeit, und seine drei „Batman“-Filme katapultierten das Genre der Superheldencomic-Verfilmung auf einen neuen, filmästhetisch funkelnden Stern.

Daß Zuschauer die Welt anders sehen lernen, ist auch diesmal das erklärte Ziel des Regisseurs. Sein neues Monumentalwerk „Tenet“ erweckt jedoch den Eindruck, daß das, was seine Filme sonst von Dutzendware abhebt, das philosophische Knistern und Glitzern, zur Masche geworden ist. Schon Nolans „Dark Knight“-Filme von 2008 und 2012 litten unter opulent orchestrierten Attacken auf das akustische Wohlbefinden.
Ebenso versinkt „Tenet“ in einem Ozean aus Klangbombast, der den Kinosessel zum Vibrieren bringt, und explosiven Actionsequenzen, die Atemnot auslösen, während die Filmhandlung, um die es eigentlich gehen müßte, nebenher paddelt und mühsam versucht, sich über Wasser zu halten. Man kennt das von den neueren James-Bond-Filmen, in denen die Lagebesprechungen zwischen den Einsätzen des Superagenten an ständig wechselnden und stets ansichtskartentauglichen Schauplätzen wenig mehr sind als eine Überleitung zur nächsten spektakulären Stuntkanonade. Und am Horizont lauert jeweils nicht weniger als der Weltuntergang, den ein Edelschurke herbeizuführen skrupellos bestrebt ist.

Die Logik bleibt auf der Strecke

Einen solchen Edelschurken gibt es auch in „Tenet“: Er heißt Sator und wird verkörpert von dem Briten Kenneth Branagh. Sator ist ein Waffenschieber, der durch die Trümmer eines kommenden Krieges, eines biblischen Harmagedon, dem Geheimnis „inversiver Strahlung“ und, daraus resultierend, „invertierter Waffen“ auf die Spur gekommen ist. Einfacher ausgedrückt: Sator kann sich rückwärts durch die Zeit bewegen und macht sich dies zunutze, um Unheil zu stiften. Seine Gegenspieler sind John D. Washington, der einen schwarzen Superhelden spielt, und Robert Pattinson als Neil. Das Bindeglied zwischen den feindlichen Lagern ist Kat (Elizabeth Debicki), eine 007-taugliche Schöne mit Magermodelmaßen, die sich von Sator lossagen möchte, durch den gemeinsamen Sohn aber erpreßbar ist und von Sator als Druckmittel gegen die Guten benutzt wird. Kat hat nämlich typisch männliche Beschützerinstinkte in dem schwarzen Helden wachgerufen.
„Tenet“ – das Wort wird im Film mit „Grundsatz“ übersetzt – will die Grundsätze und Grundlagen unseres vierdimensionalen Denkens ins Wanken bringen. Nicht mehr und nicht weniger darf man erwarten von dem Mann, der in dem Ruf steht, die Relativitätstheorie leinwandtauglich gemacht zu haben. Doch zu viele Figuren bleiben blaß, zu viele Motive im dunklen und zuviel Logik auf der Strecke.

„Wir leben in einer Welt des Zwielichts.“ Die Anspielung auf Walt Whitman dient in dem Film nicht nur als Erkennungsparole; sie dient ihm auch als Ausflucht dafür, daß er nicht alle losen Enden zusammenknoten kann. Mancher wird bei Christopher-Nolan-Filmen irre am eigenen intellektuellen Fassungsvermögen. Andere werden sich fragen, ob der Autor und Regisseur überhaupt seine eigenen Filme versteht. Die Rechenschaftspflicht gegenüber den Geldgebern verringert sich spürbar, wenn man (wie in diesem Fall) sein eigener Produzent ist.

Daß Nolan als Filmemacher eine gewisse Narrenfreiheit genießt, ist jedenfalls unübersehbar und verleiht seinen Produktionen jenes ganz eigene Gepräge, das Cineasten in Begeisterung versetzt. Ob diese Narrenfreiheit sich in Gehirnakrobatik auf höchstem geistigen Niveau niederschlägt oder das Publikum lediglich von einem Hitchcockschen McGuffin zum Narren gehalten wird, das liegt, wie so oft beim Medium Film, im Auge des Betrachters.