© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

Der Stenograph des Absoluten
Philosophie: Zum 250. Geburtstag des preußischen Staatsmetaphysikers Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Dirk Glaser


Deutschland ist kein Staat mehr.“  Weil sich die innere Einheit auflöst, weil die Finanzen so in Unordnung sind, daß die Mittel für die Verteidigung fehlen und die Streitkräfte daher der Karikatur einer Armee gleichen, weil der Staatstorso zum Spielball fremder Mächte geworden ist. Klingt wie ein brandaktueller Bericht zur Lage der Bundesrepublik Deutschland nach vier Amtsperioden der Kanzlerin Angela Merkel, stammt aber aus dem Frühjahr 1801.
Der Autor dieses trostlosen, „Die Verfassung Deutschlands“ betitelten Befundes ist Georg Wilhelm Friedrich Hegel, geboren vor 250 Jahren, am 27. August 1770 in Stuttgart, als Sohn eines höheren württembergischen Beamten, seit 1788 auf das schwäbische Pfarramt vorbereitet im Tübinger Stift. Einer Bestimmung, der er sich aber unter dem Einfluß der von Frankreich seit 1789 herüberwehenden Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit entzieht, um eine akademische Karriere als Philosoph einzuschlagen. Damit ist es noch nicht weit gediehen, denn Hegel ist 1801, als er sich um den Zustand Deutschlands, präzise: um den des dann 1806, wie vorhergesehen, von den Armeen Napoleons ausgelöschten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation sorgt, soeben erst in die damalige Hauptstadt der Philosophie, ins thüringische Jena gezogen, um sich an der dortigen Universität zu habilitieren.

Hegels Ruf, ein Apologet des „Machtstaats“ zu sein

Das tut er im August 1801 zwar auch, aufgrund einer naturphilosophischen Abhandlung über die Planetenbahnen erhält er die Lehrberechtigung, doch der frischgebackene Privatdozent beobachtet weiter aufmerksamer die politischen als die kosmischen Konstellationen. Was bei ihm nicht nur „nebenher“ läuft, denn der Philosoph ist bei ihm nicht vom Homo politicus zu trennen, die Theorie entwirft er allein um der Praxis willen.
Die Etablierung in Jena und die dort begonnene Arbeit an seinem alle Wirklichkeit auf den Einheitsgrund der Vernunft stellenden „panlogischen“ System versteht er, nach langer, dürftiger Hauslehrerexistenz in Bern und Frankfurt,  zugleich als „Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen“. Entsprechend bietet das unter dem Kanonendonner der Schlacht von Jena-Auerstedt im Oktober 1806 abgeschlossene erste Hauptwerk, die „Phänomenologie des Geistes“, sowohl eine hochspekulative Vernunfterkenntnis in Form einer Geschichte der Bildung des Bewußtseins wie auch die Vermittlung eines Freiheitsbewußtseins, das zur Gestaltung menschlichen Zusammenlebens nach dem Prinzip der Selbstbestimmung ermächtigt.

Hegels politische Philosophie findet ihre konzentrierteste Fassung jedoch in den kurz nach der Berufung auf den Berliner Lehrstuhl Fichtes entstandenen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ von 1820, die ihm den bis heute nachhallenden Ruf eines preußischen Staatsmetaphysikers und Apologeten des „Machtstaats“ eintrug und die nicht so offenkundig liberal-demokratisch anzustreichen ist wie die hermetische, sich zwar mit abschreckender Begrifflichkeit panzernde, mit Hilfe ihrer sprudelnden Freiheitsrhetorik aber leicht zu entschlüsselnde „Phänomenologie“ oder die „Wissenschaft der Logik“ (1812/16).
Der Streit darum, ob sich autoritäre bis totalitäre Regime guten Gewissens mit Hegel legitimieren konnten, entzündet sich denn auch hauptsächlich an der „Rechtsphilosophie“ und beherrscht einen wesentlichen Teil der Rezeptionsgeschichte des via Karl Marx politisch wirkungsmächtigsten Denkers der Neuzeit. Erinnert sei nur an Karl R. Poppers im Exil als Beitrag zur alliierten Kriegspropaganda gegen „Nazideutschland“ entstandenes Pamphlet „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1945), die die „falschen Propheten“ Hegel und Marx als geistige Urheber von Auschwitz und Archipel Gulag anklagt.
Noch in den 1970ern, im Konflikt mit dem durch die „Studentenrebellion“ befeuerten Neomarxismus, diente Poppers hemdsärmelige Deutung seinem österreichischen Landsmann, dem „Nach-Metaphysiker“ Ernst Topitsch („Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie“, 1967) und dem von diesem inspirierten Sozialhistoriker Hubert Kiesewetter dazu, eine direkte Verbindung „Von Hegel zu Hitler“ (1973) herzustellen. Das Herzstück von Hegels Systemphilosophie, die dialektische Methode, so der Vorwurf, habe bereits lange vor der NS-Zeit eine wichtige Rolle im Kampf gegen Demokratie, Humanität und Emanzipation, und für Macht-, Militär- und Führerstaat gespielt.
Obwohl derart grobe Klassifizierungen dank Joachim Ritter und einiger seiner Schüler wie Hermann Lübbe und Ernst-Wolfgang Böckenförde zum Zeitpunkt ihrer Publikation bereits obsolet schienen und Karl-Heinz Ilting ab 1973 mit einer monströsen Edition der Vorlesungsnachschriften der „Rechtsphilosophie“ gar den anachronistisch überschießenden Versuch unternahm, zu dokumentieren, daß Hegel sich als Liberaler eigentlich schon vorzeitig auf dem Boden des Bonner Grundgesetzes angesiedelt habe, steht der Denker weiter im Ruch mindestens des „Vordemokraten“.
Zwei Biographen fühlten sich zum Geburtstagsjubiläum aufgerufen, das bereits eingeschlafene Verfahren gegen den politischen Philosophen Hegel wiederaufzunehmen: Sebastian Ostritsch, Jahrgang 1983, Philosophiehistoriker an der Universität Stuttgart, und Klaus Vieweg, Jahrgang 1953, Professor für klassische deutsche Philosophie an der Universität Jena. Beide weisen die Anwürfe von Popper et al. mit Aplomb als perfide und haltlos zurück. Und doch kreieren sie Hegel-Bilder, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.

Hegel bewunderte Preußens „Allgemeines Landrecht“

Ostritsch beweist dabei deutlich feineres historisches Gespür und mehr hermeneutische Sensibilität für den „Stenographen des Absoluten“ als der in linksliberalen Schablonen gefangene Vieweg, der auf Iltings Spuren wandelnd mit ermüdender Emphase „den Theoretiker der modernen Freiheit“ anpreist, den „demokratischen Republikaner“, nie wankenden, alljährlich den 14. Juli mit Champagner begießenden Anhänger der Französischen Revolution, den Erzfeind der preußischen „Restauration“, Kritiker „restaurativ-konservativer Gedankenmodelle“, nimmermüden Verteidiger des westeuropäischen Verfassungsmodells, Vordenker des „modernen“, leider gegenwärtig durch die neoliberale Globalisierung etwas bedrängten „Rechts- und Sozialstaats“. Soweit wie die „Rechtsphilosophie“ einen gegenteiligen, einst marxistisch-leninistische, nationalsozialistische wie faschistische Vereinnahmungen erleichternden Eindruck erwecke, gehe dies aufs Konto „Tarnsprache“, die Hegel habe wählen müssen, um die unter dem Regime der Karlsbader Beschlüsse von 1819 verschärfte preußische Zensur über die wahren, prodemokratischen und liberalen Aussagen zu täuschen.

Zu Kronzeugen dafür, daß Hegel mit dem NS-Totalitarismus nichts am Hut hatte, avancieren bei Vieweg Adolf Hitlers Chefideologe Alfred Rosenberg,  weil er Viewegs „Großmeister der neuzeitlichen Philosophie“ für einen weltanschaulich abzulehnenden Kosmopoliten hielt, sowie Carl Schmitt, weil der erklärte, Hegel sei am 30. Januar 1933 gestorben. Hier erhält man schon einen kleinen Eindruck davon, wie eigenwillig Vieweg zitiert. Geht Schmitts Einlassung doch weiter: Hegels Beamtenstaat sei mit der NS-Machtergreifung zwar untergegangen, doch was „überzeitlich groß und deutsch“ an ihm sei, bleibe auch in der neuen Gestalt weiter wirksam. Genauso sahen das, da sind Topitsch und Kiesewetter partiell im Recht, die Kohorten dezidiert neuhegelianischer Staatsrechtler und Historiker, die nach 1933 eine Konjunktur erlebten und deren Anstrengungen zur Legitimationsbeschaffung sich das NS-Regime gern gefallen ließ.

Ähnlich unglücklich agiert Klaus Vieweg, wenn er sich bemüht, den preußischen Staat auf Distanz zum Professor auf Preußens akademischem Thron zu bringen. Auch dabei hilft ihm wieder die Kunst verkürzten Zitierens. In einer für seine gesamte, angeblich „neue“ Hegel-Auffassung zentralen, weil den Philosophen mit dem Menschenbild des Grundgesetzes kurzschließenden Passage leitet er ein Zitat aus der Rechtsphilosophie mit der eigenen Wendung „In den modernen Staaten“ ein, um dann mit dem originalen Hegel-Text fortzufahren: „darf man die Definition des Menschen – als eines rechtsfähigen – an die Spitze des Gesetzbuches stellen …“ Tatsächlich steht dort: „Gottlob, in unseren Staaten darf man die Definition des Menschen …“ Unsere Staaten – gemeint ist also Preußen mit seinen 1820 zwischen Maas und Memel liegenden Provinzen, und das Gesetzbuch, auf das sich dieses hohe Lob bezieht, das ist das „Allgemeine Landrecht für die königlich preußischen Staaten“ (ALR) von 1794, dessen Urheber, Friedrich den Großen, Hegel – keineswegs in „Tarnsprache“ –  deswegen rühmt als den größten Wohltäter seines Volkes.
Nachdem Karl Marx der „Rechtsphilosophie“ bereits flüchtig bescheinigt hatte, die meisten ihrer Paragraphen zur Regierungsgewalt könnten im preußischen Landrecht stehen, sind wir dank der Münchner Habilitationsschrift Rolf K. Hocevars („Hegel und der Preußische Staat“, 1973) gründlich darüber orientiert, daß die „Rechtsphilosophie“ in entscheidenden Fragen mit dem ALR übereinstimmt. Auch in der Ablehnung des französischen Demokratismus und des angelsächsischen Liberalismus.

Instabile Aggregate durch „Reißbrett-Verfassungen“

Noch in seiner letzten politischen Schrift über die englische Reformbill (1831) akzentuiert Hegel die Vorzüge des ALR als einer Revolution von oben gleichkommenden Antwort auf die Revolution von 1789, die dem Menschen nur jene dem anarchischen Gesetz der Vereinzelung gehorchende Freiheit atomisierter Subjekte beschert habe, die es ihm nur erlaube, sich im Wirtschaftskampf jeder gegen jeden zu bewähren oder unterzugehen. Daher war Hegel, anders als Vieweg predigt, auch kein Freund abstrakter Menschenrechte westlicher Prägung, von daraus abgeleiteten universalistischen Grundrechten oder der „undeutschen“ Volkssouveränität. Dies erkannte selbst Jürgen Habermas, als er 1966 Hegels „Politische Schriften“ herausgab und über dessen umfassende Kritik am westlichen Verständnis von „Staatsbürgertum“ erschrocken staunte.  

Hegel, dies hebt Sebastian Ostritsch  in seiner sich als Einstieg in einen schwierigen Denker vorzüglich empfehlenden Biographie gegen Viewegs wüste Konstruktionen hervor, lehnte „Reißbrett-Verfassungen“ französischen Typs, die nicht an historisch Gewachsenes, an das Bewußtsein gemeinsamer Abstammung und Kultur, Sprache und kollektive Erinnerung anschließen, vehement ab. Weil daraus nur instabile Aggregate entstehen. Die Menschen in die Entfremdung privater Existenz stoßen statt sie in der Erziehung durch die Sittlichkeit des „Volksgeistes“ zu konkreter Freiheit im Wirken für Staat und Nation zu erheben.

Franz Kugler, „Hegel am Katheder“, Lithographie von 1828: Erziehung durch Sittlichkeit des „Volksgeistes“

Sebastian Ostritsch: Hegel. Der Weltphilosoph. Propyläen Verlag, Berlin 2020, gebunden, 315 Seiten, 26 Euro

Klaus Vieweg: Hegel. Der Philosoph der Freiheit. Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2020, gebunden, 824 Seiten, Abbildungen, 34 Euro