© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

Das Morden ging weiter
Vor 75 Jahren eröffneten die Sowjets in ihrer Besatzungszone „Speziallager“ für politische Gegner / Auch NS-KZ waren nicht tabu
Jan von Flocken


Der letzte Herzog von Anhalt Joachim Ernst starb am 18. Februar 1947, zum Skelett abgemagert, an Hungertyphus im Konzentrationslager Buchenwald. Die Nationalsozialisten hatten den 46jährigen Hochadeligen bereits im Januar 1944 als Widerständler im KZ Dachau eingesperrt. Nach Ende des Krieges blieb Joachim Ernst, anders als viele seiner Standesgenossen, in der russisch besetzten Heimat auf Schloß Ballenstedt im Harz. Doch für Stalins Terrorkommandos galt der Askanier als „Nazi-Verbrecher“ und „ausbeuterischer Großgrundbesitzer“. Am 31. August 1945 wurde er erneut verhaftet, durch mehrere Lager geschleppt und endete schließlich in Buchenwald. Es war jenes KZ, das im NS-System im Juli 1937 am Nordhang des Ettersberges bei Weimar als Straflager für Regimegegner errichtet wurde.

Jeder dritte Insasse in den Speziallagern starb

Dem Sieg der Roten Armee folgten vor 75 Jahren Stalins Rachebrigaden auf dem Fuße und richteten nach Sowjetmuster Straflager für Zivilisten ein. Schlimmer noch, in mehreren Fällen bedienten sie sich dabei der von den Nationalsozialisten eingerichteten KZ. So wurde am 30. August 1945 Buchenwald offiziell als „Speziallager Nr. 2“ eröffnet. Dabei hatte die Numerierung nichts mit der Reihenfolge der Eröffnung zu tun. Zuvor hatte die Besatzungsmacht bereits Ketschendorf (Nr. 5), Bautzen (Nr. 3), Fünfeichen (Nr. 9) und Hohenschönhausen (Nr. 4) sowie das Durchgangslager Weesow in Brandenburg eingerichtet. Auch das frühere NS-Konzentrationslager Sachsenhausen, das die Sowjets im August wiedereingerichtet hatten, wurde als Speziallager Nr. 7 geführt.

In diesen Lagern wurden seit Mai 1945 160.000 bis 180.000 Deutsche sowie etwa 34.000 ehemalige Sowjetbürger interniert. Die Haftbedingungen waren derart fürchterlich, daß jeder dritte Insasse starb – hauptsächlich an Hunger und Seuchen. Nur ein geringer Prozentsatz der Häftlinge besaß eine aktive NSVergangenheit. Wirkliche Parteigrößen gab es in den Internierungslagern sehr selten. Diese hatten sich entweder der gegen Kriegsende einsetzenden Fluchtbewegung gen Westen angeschlossen oder sie wurden sofort von Militärtribunalen der Roten Armee verurteilt und in die Sowjetunion deportiert. Daß man nahezu alle Zivilinternierten bis Anfang der fünfziger Jahre wieder auf freien Fuß setzte, bewies im nachhinein ihre mehrheitliche Unschuld.

Die Verhaftungswelle der Nachkriegsmonate umfaßte immer mehr Menschen, die als „Klassenfeinde“ galten, hauptsächlich aufgrund ihrer sozialen Herkunft. Betroffen waren nicht nur kleine NSDAP-Mitglieder und Angehörige der Hitlerjugend, sondern Beamte und Verwaltungsangestellte, Richter und Rechtsanwälte, Journalisten, Lehrer, Wissenschaftler, Kaufleute und Fabrikanten, Großbauern und Grundbesitzer. Auch Ärzte, Geistliche und Mitarbeiter der Rüstungsindustrie befanden sich unter den Häftlingen. Es kam mitunter zu grotesken Verwechslungen. So wurde ein Berliner Eisenbahner zu mehreren Jahren Lagerhaft verurteilt, weil er seinen Beruf wahrheitsgemäß mit S-Bahn-Führer angab, der russische Dolmetscher aber „SS-Bannführer“ verstand, einen Dienstgrad, den es bei Himmlers Truppe überhaupt nicht gab.

Im Lager Buchenwald starben so unterschiedliche Persönlichkeiten wie der Filmregisseur Hans H. Zerlett („Es leuchten die Sterne“), der Oberbürgermeister von Weimar Otto Koch, der sudetendeutsche Romanschriftsteller Friedrich Jaksch, der Ruder-Olympiasieger von 1932 Walter Meyer, der Thüringer Theologe Erwin Brauer oder der Fallschirmjägeroffizier Erich Wal-ther. Letzterer wurde eingekerkert wegen „Teilnahme am Krieg gegen die Sowjetunion“. Andere überlebten die Strapazen wie der Leipziger Verleger Wilhelm Goldmann, die Filmschauspielerin Marianne Simson („Münchhausen“) oder der Sportfunktionär Karl Ritter von Halt.

Zu den Insassen von Buchenwald zählte auch Kurt Noack. Der 1930 geborene Junge aus dem Lausitzer Dorf Groß Kölzig mußte wie viele seiner Altersgefährten während der letzten Kriegsmonate im sogenannten Volkssturm dienen. Zum Einsatz gegen die Rote Armee kam er selbst nicht mehr. Zusammen mit 1.600 14- bis 18jährigen Jungen wurde er im Herbst 1945 vom sowjetischen Geheimdienst ins Internierungslager Ketschendorf verschleppt. Er wurde beschuldigt, der faschistischen „Werwolf“-Organisation angehört und Verbrechen gegen die Sowjetunion begangen zu haben. Damit begann für ihn ein dreijähriger Leidensweg, welcher ihn schließlich zu Ostern 1947 halbverhungert nach Buchenwald führte. Auch hier mußte man in den mit jeweils 300 Mann stark überbelegten Baracken mit drastisch reduzierten Verpflegungssätzen auskommen; meist gab es nur wäßrige Kohlsuppe und trockenes Schwarzbrot.
Erst nach 1990 durfte der Ermordeten gedacht werden

Über den Alltag im Lager berichtete Kurt Noack: „In unseren Höfen erlebten wir die täglichen Zählappelle, die oft genug und besonders dann, wenn Wind und schlechtes Wetter uns zu schaffen machten, mehrere Stunden dauerten. Der Befehl zum Wegtreten kam erst, nachdem der jeweils für eine Zone zuständige Sergeant am letzten seiner fast 4.000 Leute vorbeigegangen war.“ Eines Tages mußte eine zugemüllte Baracke aus NS-Zeiten geräumt werden. Was man in den Haufen fand, erstaunte alle Häftlinge. „Für uns schien es unvorstellbar, daß unsere Buchenwalder Vorgänger im Besitz von Rasierapparaten und -messern, Scheren, Kämmen, Spiegeln, Socken, Schuhen, Bürsten, Büchern, Schreibgeräten, ja selbst von Präservativen waren, die wir in großer Zahl fanden.“ Immerhin durfte man 1947 einmal im Monat kompanieweise duschen.

Die Haft in Buchenwald überlebten ungefähr 12.000 Häftlinge nicht. Sie starben an Hungerödemen, Tuberkulose, Ruhr und Typhus. Viele trugen aufgrund ihrer jahrelang erzwungenen Untätigkeit im Lager schwere psychische Schäden davon. Die Toten wurden meist in Massengräber am Südhang des Ettersberges und in eine Niederung beim Dorf Hottelstedt geworfen.

1958 entstand in Buchenwald eine Mahn- und Gedenkstätte, die aber lediglich den Opfern von 1937 bis Mai 1945 gewidmet ist. Heute erinnern mehrere hundert Stelen aus Metall über den Massengräbern an die Opfer des Stalinismus auf deutschem Boden.

Foto. Gedenken an den ermordeten Vater am früheren Speziallager Nr. 7 in Sachsenhausen 2008: Meist nur „Klassenfeinde“ der Kommunisten