© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

Verzweiflung und Hochgefühl
Alexander Rahr und Wladimir Sergijenko porträtieren anhand unterschiedlicher Augenzeugenberichte den Tag des Kriegsendes vor 75 Jahren
Filip Gaspar


Der Publizist und Osteuropa-Historiker Alexander Rahr zählt zu den bekanntesten Rußlandexperten in Deutschland. Nach mehreren Büchern über Wladimir Putin und zu aktuellen Geschehnissen in Rußland veröffentlicht er zusammen mit Wladimir Sergijenko zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges sein neuestes Buch „Der 8. Mai: Geschichte eines Tages“.

Anders als der Titel vermuten läßt, liefert das Buch keine Analyse des Kriegsendes, sondern eine Zusammenstellung von Augenzeugenberichten. Um dies zu bewerkstelligen, mußten die Aufzeichnungen der mittlerweile verstorbenen Zeitzeugen gesichtet und aufbereitet werden. Diese Berichte stecken voller Emotionen, ohne jemals anklagend zu werden, und schaffen es somit, einen unverfälschten Blick auf den damaligen Tag zu geben. Man erfährt von Schicksalen im zerbombten Berlin, sowohl aus der Sicht der leidenden deutschen Zivilbevölkerung als auch von den in die Stadt vorrückenden sowjetischen Soldaten.

Weiter geht es zum Roten Platz, auf dem am 9. Mai ein Volksfest zur Feier des Kriegsendes stattfindet. Wohlgemerkt unterzeichnete Deutschland die bedingungslose Kapitulation, als es wegen der Zeitverschiebung in Moskau bereits der 9. Mai war. Der Leser bekommt die Eindrücke von verschiedenen Orten und von Protagonisten aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten und militärischen Rängen aufgezeigt. Da ist der US-amerikanische Präsident Harry S. Truman, dessen Geburtstag auf den 8. Mai fällt und der doppelten Grund zum Feiern hatte und auf der anderen Seite der desillusionierte deutsche Feldmarschall Wilhelm Keitel in Berlin-Karlshorst bei der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation.

Schmuckkästchen mit den angeblichen Zähnen Hitlers

Darüber hinaus gibt es noch viele andere Geschichten, wie zum Beispiel die der Rotarmistin, die von einem Vorgesetzten die angeblichen Zähne Hitlers in einem Schmuckkästchen überreicht bekommt, wofür sie mit ihrem Leben hafte, da es „das unwiderlegbare Beweisstück vom Tod Hitlers“ sei. Oder eine junge Berlinerin, die von den Sowjets den Auftrag bekommt, über Nacht aus alten Stoffetzen eine amerikanische Flagge für die bevorstehende Siegesfeier zu schneidern. Ein Panorama der Emotionen wird ausgebreitet und von Wut, Trauer, Hunger, Angst aber auch Glück und Erleichterung des beendeten Krieges findet man alles vor.
Die einzelnen Erzählungen schwanken in der literarischen Qualität, was aber auch niemals die Prämisse der Herausgeber war, sondern sie setzen darauf, daß „durch Unmittelbarkeit, durch Glaubwürdigkeit, überraschende Perspektiven und immer durch Fokussierung auf diesen Tag“ authentische Erlebnisberichte entstehen würden, was auch größtenteils gelungen ist. Es wird nicht versucht, den 8. Mai in irgendeiner Weise politisch zu deuten.
Rahr möchte keine moralische Bewertung der in das besiegte Deutsche  Reich einziehenden Besatzer vornehmen. Etablierte Deutungsmuster des US-amerikanischen Befreiers im Gegensatz zum sowjetischen Marodeurs werden im Buch nicht in den Fokus genommen. Es ging den Herausgebern eher darum, über ein kollektives Erinnern aller beteiligten Seiten die Möglichkeit zu einer Annäherung zu schaffen. Für Rahr ist es eine essentielle Frage, wie man stetig auseinanderdriftende Geschichtsnarrative zurück zu einer gemeinsamen Basis führen kann. Vielleicht können diese Erzählungen dazu beitragen.

Kollektives Erinnern aller beteiligten Seiten

Rahr beschreibt in seinem Nachwort, daß man eine neue Leseart für den Zweiten Weltkrieg mit Hilfe der Nato- und EU-Osterweiterung zu etablieren versucht. Für Rußland ist der 9. Mai identitätsstiftend und man kann davon ausgehen, daß dies so bleiben wird. Rahr kritisiert, daß man vermehrt das „gefeierte Narrativ der ‘Rettung der Freiheit Europas’“ anzweifelt und für Rußland lieber eine Lustration nach deutschem Vorbilde sehen möchte, die besagt, daß die Sowjetunion nicht nur eine Mitschuld am Zweiten Weltkrieg habe, sondern die Entstehung der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa verantworten müsse. Rahr meint, daß eine gemeinsame Aufarbeitung zwischen Rußland und seinen Nachbarn erst dann erfolgreich sei und Geschichtsbücher nicht mehr „unterschiedlich verfaßt“ würden, wenn der Westen aufhöre, sich nicht als historischer Richter aufzuspielen. „Vielleicht hilft diese Reflexion über den 8. Mai 1945, die Konfrontation zu glätten“, hofft der Autor.


Foto: Wehrmachtssoldat vor dem Berliner Reichstag 1945: Das Gefühl der Erleichterung sowohl bei Siegern als auch bei  Besiegten

Alexander Rahr, Wladimir Sergijenko: Der 8. Mai: Geschichte eines Tages. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2020, gebunden, 221 Seiten,
22 Euro