© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

Ohne Maß und Ziel
Die Wissenschaftler Sucharit Bhakdi und Karina Reiss kritisieren die Maßnahmen der Bundesregierung gegen die Corona-Epidemie
Norbert Westhof


Zwischen der offiziellen Darstellung der Corona-Pandemie in vielen Medien auf der einen sowie der kritischen Diskussion ihrer Folgen in den sozialen Netzwerken auf der anderen Seite haben bereits im März 2020 binnen weniger Wochen Differenzen in Inhalt, Form und Stil der jeweiligen Beiträge ein historisches Tief des Vertrauens vieler Menschen in die Führungskompetenz der Regierungen ihrer Länder deutlich gemacht. An Warnungen vor einer dramatischen Überschätzung des Infektionsgeschehens durch die WHO oder das Robert Koch Institut (RKI) hat es seitdem nicht gefehlt.

Aus den Reihen solcher Mahnrufe bekannter Epidemiologen, Politik- und Wirtschaftsfachleute ragt der Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie Sucharit Bhakdi mit einem im Internet als Text und als Video veröffentlichten offenen Brief an die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel heraus. In diesem Brief warnt der ehemalige langjährige Leiter des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz wie wenige Tage zuvor dessen Fachkollege Wolfgang Wodarg vor den Folgen des zu diesem Zeitpunkt bereits in Gang gesetzten Lockdowns in Deutschland und anderswo.
Bhakdis stringente Argumentation in besagtem Brief mündet in die dringende Bitte um eine sachliche und öffentliche Auseinandersetzung mit seiner Kritik der offiziellen Darstellung der Lage und der gesamtgesellschaftlichen Ordnungsmaßnahmen, die der Verfasser für „kollektiven Selbstmord“ hält. Statt daß eine solche Auseinandersetzung stattgefunden hätte, sah sich der Inhaber des Verdienstordens des Landes Rheinland-Pfalz binnen weniger Tage in vielen der öffentlich-rechtlichen Medien zum Verschwörungstheoretiker stilisiert.

Corona sei vergleichbar mit einer saisonalen Grippe

Um so dringlicher scheint es geboten, daß Sucharit Bhakdi, nun zusammen mit der an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel forschenden und lehrenden Naturwissenschaftlerin Karina Reiss, seiner Ehefrau, ein Buch publiziert hat, das binnen kurzer Zeit Nummer eins auf der Spiegel-Bestseller-Liste in der Rubrik Taschenbuch/Sachbuch geworden ist und bereits in mehrfacher Auflage nachgedruckt werden mußte. Durch zahlreiche Quellenangaben gut belegt, einfach in der Sprache und anschaulich in der Darstellung von Text und Grafiken, legen die Autoren auf knapp 160 Seiten kritisch und stringent dar, daß die „Epidemie“ zu keinem Zeitpunkt „ein Infektionsgeschehen von nationaler Tragweite“, sondern, „vergleichbar mit einer saisonalen Grippe“ gewesen sei und speziell „ältere Menschen mit einer ernsten Vorerkrankung“ gefährde.

Im einzelnen setzen Bhakti und Reiss sich mit folgenden fünf Fragenkomplexen auseinander: Wie gefährlich ist das neue Coronavirus? War unser Gesundheitssystem jemals überlastet? Welche Folgen hat der Shutdown, insbesondere für die Gesundheit vieler Menschen? Welche Handlungsalternativen wären die richtigen gewesen? Wurde die Öffentlichkeit von offiziellen Stellen fehlinformiert und wenn ja, weshalb?
In diesem letzten Punkt sollten die Aussagen im Buch der beiden Wissenschaftler eine Ergänzung erfahren. Diese Publikation zeugt davon, daß der Verfasser jenes Briefes bzw. seine Koautorin Karina Reiss inzwischen nicht nur die Hoffnung auf eine sachliche Auseinandersetzung in Politik und Medien mit den wissenschaftlichen Bedenken gegen die öffentlichen Maßnahmen aufgegeben haben. Das Buch zeugt vielmehr davon, daß sie zu der Ansicht gelangt sind, daß die Maßnahmen der Regierung „einen Kurs der Unverhältnismäßigkeit und der Ignoranz, der für viele Menschen nicht mit der Verfassung einer freien Demokratie vereinbar erscheint“ bedeuten. Bhakti und Reiss selbst sehen die Gefahr einer Zerstörung der Demokratie: „Nun stehen wir vor einem riesigen Trümmerhaufen“, gefolgt von der Hoffnung, daß verhindert werde, daß sich „Geschichte wiederhole“.
Wie eine solche Wiederholung verhindert werden kann, ist eine äußerst dringende Frage, vor allem vor dem Hintergrund, daß es sich bei der Bekämpfung der vermeintlichen Pandemie und deren politischer Instrumentalisierung offensichtlich um einen weltweiten Trend handelt, dem die meisten Regierungen folgen, ohne daß Maß und Ziel der Maßnahmen erkennbar sind.

Foto: Sucharit Bhakdi


Sucharit Bhakdi, Karina Reiss: Corona Fehlalarm? Zahlen, Daten und Hintergründe. Goldegg Verlag, Berlin, Wien 2020, broschiert, 159 Seiten. 15 Euro