© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

Der neue Sputnik-Schock
Das Paul-Ehrlich-Institut hält eine Covid-19-Impfung ab Anfang 2021 für möglich / Ist Rußland schneller?
Jörg Schierholz


Weltweit 22,5 Millionen nachweislich mit Sars-CoV-2 Infizierte, bislang 790.000 Covid-19-Tote – das vermeldete vorige Woche die Johns Hopkins University in Baltimore. Die USA bleiben mit über 5,5 Millionen Infizierten und 175.000 Corona-Opfern – dreimal soviel wie an US-Soldaten im Vietnamkrieg gefallen sind – der Pandemie-Hotspot. Brasilien ist mit 3,5 Millionen Infizierten und 112.000 Todesfällen – bei nur zwei Drittel der US-Einwohnerzahl – aber ähnlich stark betroffen. Deutschland ist – mit 230.000 Infizierten und 9.260 Corona-Toten – bislang glimpflich davongekommen.

Doch die Sommer- und Urlaubszeit hat viele nachlässig gemacht: „Die Infektionen werden wieder exponentiell steigen, wenn wir nicht gegensteuern“, warnte der Virologe Alexander Kekulé, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie des Uniklinikums Halle (Saale), im Sender MDR. Doch „viele Unternehmen, die in der ersten Welle durch Rücklagen überleben konnten, werden dies in einer zweiten Welle nicht mehr können“, fürchtet Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).

Hoffungsschimmer oder nur Putin-Propaganda?

Doch wenn sich zu viele nicht an die Infektionsschutzkonzepte halten wollen und die Pandemie außer Kontrolle gerät, bleibt dann nur die Hoffnung auf einen Durchbruch in der Pharmaforschung? „Vorläufige Prognosen lassen die Verfügbarkeit eines Impfstoffs (ggf. mehrerer) bis Herbst 2020 möglich erscheinen“, hieß es noch vor drei Wochen auf der Internetseite des Berliner Robert-Koch-Instituts (RKI) – was am 12. August dementiert wurde. Klaus Cichutek, Chef des für Impfstoffe zuständigen Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) im hessischen Langen, hält es aber immerhin für möglich, daß erste Impfstoffe zu Jahresbeginn 2021 zugelassen werden, „womöglich mit Auflagen“.

Der am 11. August präsentierte russische Impfstoff „Sputnik V“ sei hingegen „kein Durchbruch“, so Cichutek in der FAZ, denn der Impfstoff sei an zu wenigen Personen getestet worden. Eine Zulassung in Deutschland und der EU verlange Tests an mindestens 3.000 bis 10.000 Probanden. Betreibt also Präsident Wladimir Putin – bei fast einer Million in Sars-CoV-2-Infizierten in Rußland – nur „üble Impfstoff-Propaganda“, wie beispielsweise die Süddeutsche Zeitung kommentierte?
Doch schon der erste „Sputnik“ von 1957 war kein „Fake“, sondern der erste künstliche Satellit in einer Erdumlaufbahn. Der Name wurde also gezielt gewählt. Und in Putins Rede heißt es nicht „zugelassen“, sondern „registriert“ – das ist die Voraussetzung für die dritte Testphase. Als Einführungstermin wird vom russischen Gesundheitsministerium der 1. Januar 2021 genannt.

Das unterscheidet sich also kaum von Cichuteks aktueller PEI-Prognose. Eine klinische Phase-3-Studie soll nun in Rußland, Ländern des Nahen Ostens und in Lateinamerika beginnen. „Sputnik V“ – korrekt: Gam-Covid-Vac Lyo – wurde vom staatlichen Gamaleja-Institut für Epidemiologie und Mikrobiologie in Moskau entwickelt und besteht aus einem „Primer“, der eine erste Immunantwort auslöst, wohingegen die zweite Impfkomponente als „Booster“ eingesetzt wird, der die Immunantwort noch verstärken soll.
Er enthält eine nicht vermehrungsfähige Adenovirus-Variante, also einen Schnupfenvirus. Dieser Vektor-Impfstofftyp basiert auf Viren als Träger („Vektor“), die die Erbinformation für ein Protein des Zielerregers (hier Sars-CoV-2) in den Körper des Geimpften transportieren und das Impfantigen bilden. Ähnliche Konzepte verfolgen Johnson&Johnson (USA), CanSino Biologics (China) und AstraZeneca (England). Registriert ist „Sputnik V“ als klassische Prime-Boost-Immunisierung: Am Tag 1 wird mit der ersten Komponente geimpft und am Tag 21 mit der zweiten Komponente, wodurch mit der Kombination unterschiedlicher Immunogene eine additive oder synergistische Wirkung auf das Immunsystem erzielt werden soll.

Sieben Projekte in der entscheidenden Phase

Diese Strategie basiert auf Erfahrungen mit Impfstoffen gegen das Mers- und das Ebolavirus, die gezeigt haben, daß eine einmalige Impfung in manchen Bevölkerungsgruppen für einen Immunschutz nicht ausreichte. Für den Impfstoff wurden die Präklinik und zwei frühe klinische Studien laut Gamaleja-Institut erfolgreich absolviert.

Und zunächst sollen Ärzte, Pflegepersonal, Lehrer und Polizei nach und nach geimpft werden – nach russischen Angaben freiwillig. Der 68jährige Gamaleja-Chef Alexander Ginzburg und viele seiner Kollegen injizierten sich „Sputnik V“ vor Monaten selbst – was in der Frühzeit der Arzneimittelentwicklung noch gang und gäbe war.

In der „Operation Whitecoat“ in Fort Detrick (Maryland) wurden ab 1954 auch Tausende US-Soldaten mit Viren und Bakterien, die für einen möglichen sowjetischen Angriff mit biologischen Waffen in Frage kamen, infiziert, um die Effektivität von Antibiotika und Impfungen zu testen. Als Belohnung gab es für die Versuchsperson zwei Wochen Urlaub. Auch als später Wehrdienstverweigerer eingesetzt wurden, gab es laut einem US-Regierungsbericht von 1994 bei der „Operation Whitecoat“ keine Todesfälle – anders als etwa bei dem „Agent Orange“-Einsatz im Vietnamkrieg („Operation Ranch Hand“, JF 29/20).

Aktuell arbeiten Wissenschaftler global an mehr als 170 Corona-Impfstoffprojekten. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO befinden sich 29 in einer der drei klinischen Prüfphasen – sieben davon in der entscheidenden dritten Phase: Es sind das Projekt der University of Oxford und Astra-Zeneca, drei chinesische Vakzine (Sinovac, Wuhan Institute of Biological Products/Sinopharm, Beijing Institute of Biological Products/Sinopharm), ein erbgutbasierter Impfstoff von Moderna/NIAID (USA), ein Vektor-Impfstoff von Jannsen/Johnson & Johnson (Belgien/USA) sowie der RNA-Impfstoff von Biontech/Fosun/Pfizer (Deutschland/China/USA).

„Sputnik V“ ist bislang nicht gelistet, da man der WHO wichtige Daten vorenthalte. Trotzdem gebe es laut russischen Medien Anfragen aus Asien, Mittelamerika und Israel für eine Milliarde Impfdosen. Alexander Ginzburg ist ein ausgezeichneter russischer Wissenschaftler. Die frühere Sowjetunion, wo er studiert hat, war eine der ersten Weltregionen, wo Pocken, Polio und andere Infektionskrankheiten erfolgreich bekämpft wurden – mit eigens entwickelten Impfstoffen.

Ob allerdings im Wettlauf um die Erstzulassung eines Covid-19-Impfstoffes die Russen wirklich vorn liegen, ist aufgrund der unzureichenden Datenlage zu „Sputnik V“ nicht abschätzbar. Möglicherweise führt der „Sputnik-Schock“ 2020 aber auch bei angloamerikanischen Impfentwicklern zu Verkürzungen bei der Marktzulassung.



Zahlen der Johns Hopkins University: coronavirus.jhu.edu/map.html
Paul-Ehrlich-Institut:pei.de/DE/newsroom/dossier/coronavirus/coronavirus-node.html
Gamaleja-Institut für Epidemiologie: virology.gamaleya.org/news